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Politik

Libanon: Ein Rücktritt, viele Probleme

Kersten Knipp | Emad Hassan
30. Oktober 2019

Nach dem Rücktritt von Premier Hariri steht das politische Leben im Libanon zunächst still. Erwartet wird die Bildung einer Übergangsregierung. Doch wie die sich zusammensetzt, und ob sie Reformen durchsetzt, ist offen.

Saad Hariri
Bild: Reuters/M. Azakir

Am Dienstag war er als libanesischer Premier zurückgetreten. Kaum 24 Stunden später stellt Saad al-Hariri seinen Verbleib im Amt in Aussicht. Er wäre bereit, als Ministerpräsident einer neuen Regierung zu amtieren, erklärte er am Mittwoch - vorausgesetzt, dieser gehörten Technokraten an, die rasche Reformen umsetzen könnten, um den ökonomischen Kollaps des Landes zu verhindern.

Der Schritt lässt auf zahlreiche vertrauliche Gespräche schließen, denn die nun verkündete Absichtserklärung dürfte für die meisten Libanesen überraschend kommen. Am Mittwoch hatten die Demonstranten, die über Tage die wichtigsten Verkehrsadern Beiruts blockiert hatten, ihre Zelte abgebaut und die Straßen wieder freigegeben. Eines ihrer dringlichsten Ziele, der Rücktritt des Premiers, schien erreicht.

Womöglich ist es ein feines Gespür für den richtigen Zeitpunkt, das Hariri bewog, sich als Premier nun abermals anzubieten. Denn er kann davon ausgehen, dass nach seiner Rücktrittserklärung in der Öffentlichkeit ein Gedanke an Boden gewonnen hat: Der Rücktritt des Premiers mag zwar ein Triumph für die Demonstranten sein. Doch ob auf diesen Triumph auch ein weiterer folgt, und wie dieser aussehen könnte, darauf haben die im Land geführten Debatten noch keine überzeugende Antwort gegeben.

Den Stand der Diskussion umriss am Mittwoch die Zeitung "Al-Jumhuriya". "Hariri war eine zentrale Figur des Systems, das das Land in Richtung Abgrund gefahren hat; Nun versucht er, zu den künftigen Ereignissen auf Abstand zu gehen", erinnert sie an die weiterhin bestehende Verantwortung des Premiers. Ohne es offen auszusprechen, macht sie ihn mitverantwortlich für die Probleme, denen sich der Libanon gegenüber sieht: der schwache Kurs des libanesischen Pfundes, die Überschuldung, die bereits jetzt 40 Prozent der Staatsausgaben auffrisst, die finanzielle Abhängigkeit von den Golfstaaten, die Engpässe in der Energieversorgung, im Gesundheitswesen und der Infrastruktur. Zudem fühlten sich die jungen Libanesen zunehmend als Geiseln der Korruption. Doch auf die Frage, wie es denn weitergehen könnte, wusste auch "Al-Jumhuriya" keine Antwort. 

Nachlassender Druck: Die Demonstranten bauen ihre Zelte im Stadtzentrum von Beirut abBild: picture-alliance/dpa/AP/B. Hussein

Einfluss der Hisbollah

Die Vorgeschichte des Rücktritts war dramatisch: Womöglich hätte Hariri diesen Schritt bereits vor Tagen getan, hätte er sich frei entscheiden können. Aber er musste die Position der schiitischen Hisbollah berücksichtigen, die seit den Parlamentswahlen vom Mai 2018 zusammen mit ihren Partnern, allen voran der schiitischen Amal-Partei, über die Mehrheit im Parlament verfügt. Deren Chef Hassan Nasrallah hatte sich dezidiert und sehr deutlich gegen eine Auflösung der Regierung ausgesprochen. Wohl um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, schickte die Miliz eine Reihe mit Schlaginstrumenten bewaffneter Anhänger ins Zentrum, die die dort versammelten Demonstranten angriffen. Die Hisbollah ist nicht nur im Parlament eine starke Kraft. Sie gilt zudem als schlagkräftige Miliz, deren Waffenarsenal größer als das der libanesischen Armee ist. Ausgestattet und gelenkt wird sie vom Iran. Im Libanon führt politisch und militärisch kein Weg an ihr vorbei.

Allerdings kann die Hisbollah nun offenbar immer weniger auf das konfessionelle System bauen. Immer mehr Libanesen weigern sich inzwischen, sich entlang religiöser Grenzen auseinander dividieren zu lassen. Angesichts ihres "gemeinsamen Elends" hätten sich die Libanesen über die konfessionellen Grenzen hinweg zusammengetan, sagt Heiko Wimmen, Regionaldirektor der "International Crisis Group" für den Libanon, Irak und Syrien. Die drei Konfessionen des Libanons, Christen, Sunniten und Schiiten, hätten sich zwar nicht zum ersten Mal zusammengetan. Aber noch nie hätten sie das so entschlossen wie jetzt getan. "Bei den Protesten sind die religiösen oder kulturellen Gegensätze deutlich in den Hintergrund getreten. So konnte man beobachten, wie die überwiegend sunnitischen Bürger von Tripoli ihre Solidarität mit den Schiiten im Süden zeigten. Die über Konfessionsgrenzen hinausgehende Sozialproteste werden immer stärker."

Der starke Mann im Libanon: Hisbollah-Chef Hassan NasrallahBild: Reuters/A. Taher

Eine solche Entwicklung gefährdet unweigerlich das politische System des Landes - und damit auch die Machtstellung der Hisbollah. Auch deswegen hat deren politische Führung erklärt, von der Idee einer Technokratenregierung nichts zu halten. Die hätte nicht einmal zwei Wochen Bestand, erklärte Nasrallah.

Jahrzehntealte Probleme

So ist der Rücktritt von Hariri nur ein erster Schritt. Die Probleme des Landes wird er nicht lösen, erwartet der belgische Polit-Analyst Pierre Louis Raymond. "Die Krise im Libanon existiert seit Jahrzehnten und hat sich kontinuierlich ausgeweitet. Die soziale Spaltung innerhalb der libanesischen ist darüber immer größer geworden." Darum brauche es grundlegende Reformen.

Wie die aber angegangen werden sollen, ist offen. Es sei ein Vakuum entstanden, das schleunigst gefüllt werden müsste, sagt Heiko Wimmen. "In der derzeitigen Situation wird man die angeblich geplanten Reformen kaum umsetzen können. Denn das setzt voraus, dass man sich zunächst zusammensetzt und darüber nachdenkt, wie man das Land überhaupt noch regieren will."

Jubel über den Rücktritt. Doch was kommt jetzt?Bild: Reuters/A. Taher

Doch darüber herrscht auch auf Seiten der Demonstranten keinerlei Klarheit. Die Proteste hätten weder eine feste Organisationsstruktur, noch eine politische Führung, so der an der Beiruter Haigazian-Universität lehrende Politikwissenschaftler Maximilian Felsch. "Den Demonstranten fehlt ein klar formuliertes Programm. Sie wollen das System ändern. Doch wie sie das umsetzen wollen, ist ihnen selbst nicht klar." Zudem, fürchtet Felsch, könnten nicht wenige Libanesen am Ende doch den bislang bekannten Politikern vertrauen. Ob mit oder ohne Hariri, dem Libanon steht ein langer Prozess bevor. Dass er irgendwann in umfassende Reformen mündet, ist nicht ausgemacht.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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