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PolitikNahost

Libanons unbequemer Richter

Diana Hodali
30. Oktober 2021

Der libanesische Richter Tarek Bitar untersucht seit acht Monaten, wer für die verheerende Explosion im Beiruter Hafen verantwortlich ist. Doch er hat mächtige Gegenspieler - denn der Widerstand in der Politik ist groß.

Proteste gegen Richter Tarek Bitar Libanon
Richter Tarek Bitar will die Explosion im Hafen von Beirut juristisch aufarbeiten - doch er hat auch GegnerBild: Joseph Eid/AFP/Getty Images

Paul Naggear und seine Frau Tracy Awad haben sich kaum Zeit genommen, das Unfassbare zu begreifen. Ein Leben lang werden sie sich an den 4. August 2020 erinnern, als eine monströse Explosion im Hafen von Beirut durch ihr Viertel fegt, die kleine Tochter durch die Wohnung schleudert und sie wenige Tage später an den Folgen der Verletzungen stirbt. Alexandra "Lexou" war damals gerade einmal drei Jahre alt. Sie ist eines der jüngsten Opfer der heftigen Hafen-Explosion, bei der mehr als 200 Menschen getötet wurden und Tausende weitere verletzt. 

Zusammen mit anderen Angehörigen der Opfer kämpfen Paul und Tracy seither dafür, die Schuldigen an der Katastrophe zur Rechenschaft zu ziehen. Im Mittelpunkt dieses Kampfes steht Richter Tarek Bitar. "Wir glauben daran, dass er für Gerechtigkeit sorgen kann", sagt Paul Naggear am Telefon. "Aber nur, wenn das kriminelle Establishment aufhört, sich in die Ermittlungen einzumischen und Bitar seinen Job machen lässt."

Das "politische Establishment" gegen Richter Tarek Bitar

Richter Tarek Bitar ist seit fast einem Dreivierteljahr dafür zuständig, aufzuklären, wer für eine der weltweit schlimmsten nicht-nuklearen Explosionen - verursacht durch 2750 Tonnen Ammoniumnitrat - verantwortlich ist.

Tracy Awad und Paul Naggear kämpfen für Gerechtigkeit für ihre Tochter LexouBild: privat

Tarek Bitars Name ist mittlerweile im ganzen Land bekannt. Denn nicht nur die Angehörigen der Opfer setzen auf ihn: Die Forderungen nach Gerechtigkeit für die Opfer der Explosion sind verwoben mit den Bestrebungen wütender und erschöpfter libanesischer Bürger, deren Land sich in einer Abwärtsspirale befindet: Kaum Strom, Währungsverfall, Wassermangel, Medikamenten- und Ärztemangel und dazu noch eine Pandemie - die Liste ist lang.

Doch ob Tarek Bitar gelingt, was sich so viele wünschen, ist nicht sicher. Sein Team besteht aus nur wenigen Personen, die Anzahl seiner politischen Gegenspieler hingegen ist groß. Für die politische Klasse ist der 47-Jährige zu einem Alptraum geworden.

"Hochrangige Personen innerhalb der politischen Elite haben bisher noch nie erlebt, dass ein Richter sie auf diese Weise verfolgt. Ich denke, dies ist auch der Hauptgrund für die öffentliche Unterstützung von Tarek Bitar", sagt Halim Shebaya, Geschäftsführer der Arab Association of Constitutional Law. Die Menschen wünschten sich eine Justiz, die Rechtsstaatlichkeit schaffe, anstatt Straflosigkeit. Und genau dafür steht Bitar.

Halim Shebaya von der Arab Association of Constitutional Law beschreibt Richter Tarek Bitar als einen integren MannBild: privat

Hochrangige Politiker wollen sich der Verantwortung entziehen

Sämtliche Politiker verschiedener Parteien und Religionsgruppen arbeiten derzeit daran, Bitars Absetzung zu erreichen. Doch Bitar lässt sich nicht beirren. Er bestellte sogar die Mächtigen des Libanon zum richterlichen Verhör ein, darunter ein Dutzend hochrangige frühere und gegenwärtige Regierungsbeamte. Er hat Haftbefehle gegen zwei ehemalige Minister erlassen, die sich weigerten, zu erscheinen.

Einer von ihnen ist der frühere Finanzminister der schiitischen Amal-Partei, Ali Hassan Khalil. Er drohte mit einer "politischen Eskalation", wenn der Verlauf der Ermittlungen "nicht korrigiert werde". Auch der ehemalige sunnitische Ministerpräsident Hassan Diab hat sich bisher einem Verhör entzogen - zuletzt, indem er eine Klage gegen den Staat einreichte und so Bitar zwang, die Anklage gegen ihn auszusetzen.

Immer wieder versteckten sich verdächtigte Offizielle unter dem Mantel parlamentarischer Immunität. Die schiitische Hisbollah warf dem christlichen Richter vor, er würde aus Washington gesteuert.

Angst vor einem Bürgerkrieg

Den Höhepunkt erreichte die Kampagne gegen Bitar bisher allerdings am 14. Oktober. Unbekannte hatten bei einer Demonstration wütender Anhänger der Hisbollah und ihrer Verbündeten von der ebenfalls schiitischen Amal-Bewegung gegen den Richter das Feuer eröffnet. Das Resultat: mindestens sieben Tote, mehrere Verletzte und die Angst vor einem erneuten Bürgerkrieg.

Hassan Nasrallah, der Anführer der schiitischen Hisbollah, wirft Bitar vor, politische Ziele zu verfolgen und verlangte offen seine Absetzung. "Die Hisbollah stellt sich als Beschützer dieses Regimes dar, als Beschützer der Straflosigkeit, indem sie Angriffe auf Bitar startet", sagt Halim Shebaya.

Anhänger der schiitischen Hisbollah und der Amal-Partei sind gegen Richter Tarek Bitar auf die Straße gegangen - es kam zu gewaltvollen Auseinandersetzungen Bild: Jamal Eddine/newscom/picture alliance

Hisbollah-Vizechef Naim Kassim versuchte, Bitar für die inneren Unruhen im Land verantwortlich zu machen. Die kriminelle politische Elite sei es, die die juristische Aufarbeitung politisierte, sagt Paul Naggear. "Wir sind traurig, wir sind frustriert, wir sind angewidert von dem, was passiert, obwohl wir es erwartet haben. Es ist schmerzlich zu sehen, wie bösartig das Establishment die Aufarbeitung behandelt und sie politisiert. Sie begegnen der Justiz mit Waffen und Kugeln", sagt Naggear. Sie alle seien direkt involviert, und wenn einer von ihnen falle, würde dies einen Dominoeffekt nach sich ziehen. "Sie würden sich gegenseitig beschuldigen, damit nicht einer alleine die Verantwortung übernehmen müsste. Daher decken sie sich lieber alle gegenseitig."

Neue Regierung in der Sackgasse

Auch dass sich Kardinal Béchara Boutros Rai in die juristische Aufarbeitung eingemischt hat, macht Paul Naggear wütend. Dieser hat offenbar einem Vorschlag zugestimmt, die angeklagten Minister vor den sogenannten Obersten Rat zu schicken, um sie dort zur Rechenschaft zu ziehen. Bitar könne dann weiter im Amt bleiben und sich um die Anklagen gegen die Hafen- und Zollmitarbeiter kümmern. Doch dieser Oberste Rat existiere praktisch nicht, sagt Shebaya. "Er ist in den vergangenen drei Jahrzehnten nie zusammengetreten und umfasst sogar Mitglieder des Parlaments."

Seit 2013 lagerte das Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut - mit Wissen ranghoher Politiker und Sicherheitsbeamter, die nichts dagegen unternahmen. Doch wer hatte die Lagerung der Chemikalien angeordnet? Und warum ignorierten offenbar Regierungsmitarbeiter wiederholte Warnungen vor den Gefahren? Auch 14 Monate später ist das noch nicht bekannt.

Die neue Regierung unter Ministerpräsident Nadschib Mikati befindet sich derweil in der Frage nach Bitars Absetzung in einer Sackgasse, denn die politische Elite hat sie parteiübergreifend vor eine Entscheidung gestellt: Entweder Bitar geht, oder die Regierung komme nicht mehr zusammen, so die Forderung. "Die Arbeit einer Regierung an die Arbeit eines Richters zu koppeln, ist auch ein Lehrbuchbeispiel für die Einmischung der politischen Klasse in die Justiz", sagt Shebaya.

Offenbar halten große Teile der politischen Elite Bitar für eine viel größere Bedrohung als den Kollaps der Wirtschaft, die wachsende Armut und Arbeitslosigkeit.

Am 17. Oktober 2019 haben Libanesen den Abgang der politischen Elite gefordert, 2021 haben sie ihre Forderung am Jahrestag der Explosion wiederholtBild: ANWAR AMRO/AFP/Getty Images

Internationale Gerechtigkeit erlangen als Alternative

Bitar macht derweil weiter seinen Job, so gut es geht. Er soll mittlerweile Leibwächter haben. Shebaya beschreibt ihn als eine diskrete Person, die einfach ihren Job machen will.

Er ist schon der zweite Richter, der versucht, der sich um die juristische Aufarbeitung der Explosion bemüht. Richter Fadi Sawwan war im Februar 2021 abgesetzt worden. Er sei nicht neutral, weil sein Haus durch die Hafenexplosion zerstört worden sei.

Paul Naggear und auch die anderen Angehörigen der Opfer haben volles Vertrauen in Richter Bitar. Naggear sagt, er sei die letzte Chance für sie alle, im Libanon Gerechtigkeit zu erfahren. Er geht nicht davon aus, dass ein anderer Richter - sollte man die Absetzung Bitars erreichen – den gleichen Mut und dieselbe Kompetenz haben werde wie Bitar.

"Es gibt auch die Möglichkeit, auf internationalem Weg Gerechtigkeit zu erlangen", sagt Paul Naggear. Eine Möglichkeit sei die von der Organisation Human Rights Watch in einem Brief an den UN-Menschenrechtsrat geforderte unparteiische und unabhängige Untersuchungskommission. Dazu müsste ein Land die Resolution im Menschenrechtsrat einbringen - das ist bisher noch nicht geschehen.

Paul Naggear setzt aber auch auf die für kommendes Jahr geplanten Wahlen, bei denen zum ersten Mal auch Auslandslibanesen ihre Stimme abgeben können. "Wir erhoffen uns viel von den Wahlen. Dadurch könnte es zu einem Regimewechsel kommen, und ein Regimewechsel würde eine Strafverfolgung erleichtern."

 

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