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PolitikNahost

Libanons innere Wunden

Diana Hodali
27. Dezember 2021

Für viele Libanesen war die Explosion im Beiruter Hafen ein traumatisches Erlebnis. Viele Menschen suchen Therapieplätze. Doch weil immer mehr Ärzte das Land verlassen, ist das Angebot knapp.

Libanon: Folgen der Explosion im Hafen von Beirut, Zerstörung ist sichtbar
Die Zerstörung in der Stadt Beirut ist noch sichtbar Bild: Patrick Baz/AFP

Es hat lange gedauert, doch mittlerweile kann Mira über das sprechen, was sie durchlebt hat. Am Tag der heftigen Hafenexplosion von Beirut saß sie auf der gegenüberliegenden Seite des Hafenbeckens in einem Café. "Plötzlich hörten wir eine laute Explosion, die Fenster sind zersprungen und alle haben Schutz auf dem Boden gesucht." Das war am 4. August 2020; damals flogen 2750 Tonnen ungesichert gelagerten Ammoniumnitrats in die Luft, weit über 200 Menschen wurden getötet und Tausende verletzt.

"Seither ist für mich nichts mehr, wie es einmal war", sagt Mira, die ihren echten Namen nicht nennen will. "Ich erschrecke, wenn ich laute Geräusche höre, wenn irgendwo Rauch aufsteigt. Ich suche dann gleich Schutz in Innenräumen", sagt sie. Besonders das tragische Schicksal einer jungen Feuerwehrfrau lasse sie nicht mehr los. Sie hatte die Explosion damals nicht überlebt. "Ich denke oft an sie. Sie war, wie ich damals, verlobt und wollte heiraten." Das Schicksal der jungen Frau ging damals durch alle libanesischen Medien und berührt Mira bis heute besonders: "Ich wollte auch immer zur freiwilligen Feuerwehr. Aber meine Eltern hatten es mir verboten." Mira empfindet seither eine Art Schuld, obwohl sie die junge Frau persönlich gar nicht kannte: "Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich überlebt habe."

Angehörige der Opfer der Explosion gedenken der Toten Bild: Anwar Amro/AFP

Depressionen, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen

Die Bilder der Explosion, die damals um die Welt gingen, waren für viele schockierend. Auch wenn in den Straßen rund um das Hafengelände mittlerweile einiges wiederaufgebaut und repariert wurde, sind es vor allem die inneren Wunden, die auch anderthalb Jahre danach bei vielen Libanesen noch immer nicht verheilen wollen. "Ich habe viele Freunde, die mittlerweile psychologische Hilfe in Anspruch nehmen", erzählt die 30-Jährige. 

Auch wenn es keine Erhebungen zur Entwicklung psychischer Erkrankungen im Libanon gibt, lasse sich ein Trend beobachten, sagt Joseph Khoury. Er ist Doktor der Psychiatrie und Präsident der Libanesischen Psychiatrischen Vereinigung (Lebanese Psychiatric Society). "In den vergangenen zwei Jahren sind immer mehr Menschen zu uns gekommen, um Hilfe von Psychiatern, Psychologen oder Therapeuten zu bekommen", sagt Khoury. Viele von ihnen führten ihre Probleme - zumindest vorübergehend - auf diese Zeit oder auf Ereignisse in dieser Zeit zurück. "Wir haben auch einen Anstieg posttraumatischer Belastungsstörungen durch die Explosion in Beirut beobachten können."

Krisen können Auslöser sein 

Er betont aber auch, dass man nicht immer einen spezifischen Grund für psychische Erkrankungen ausmachen könne und sie nicht immer im Zusammenhang mit den verschiedenen Krisen im Land stehen müssen. Aber: Die politische Instabilität, die Corona-Pandemie, die wirtschaftlichen Sorgen einzeln oder zusammengenommen könnten stressige Faktoren sein, die psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angstzustände fördern, sagt Khoury.

Im Libanon jagt eine Krise die nächste: Das Land schlingert gefährlich nahe am Staatsbankrott entlang. Das libanesische Pfund, das dreißig Jahre lang an den Dollarkurs gekoppelt war, hat in den vergangenen zwei Jahren ungefähr neunzig Prozent seines Wertes eingebüßt; die Weltbank spricht in ihrem neuesten Bericht - dem Lebanon Economic Monitor - von einer der schwersten Wirtschaftskrisen in der neueren Geschichte weltweit. Dazu kommen die Corona-Pandemie und die hohe Arbeitslosigkeit: Vier von zehn Libanesen sind ohne Job. Viele Betriebe mussten bereits dichtmachen und die Menschen kommen aufgrund der Wirtschaftskrise nicht an ihre Ersparnisse.

Viele Menschen sind mittlerweile auf Lebensmittelhilfen angewiesen Bild: Joseph Eid/AFP

Zukunftsängste der Libanesen 

Alles das hatte auch schon vor der Explosion Auswirkungen auf Mira. Schon Ende 2019, als die wirtschaftliche Lage sich bereits in einer Abwärtsspirale befand, merkte sie, dass sich ihr soziales Verhalten veränderte. "Ich habe Zukunftsängste entwickelt. Wie kann ich mir in diesem Land ein Leben aufbauen? Wie kann man in diesem Land Kinder bekommen? Ich habe mich immer mehr zurückgezogen, manchmal tagelang mein Zimmer nicht verlassen - und einfach nur funktioniert."

Als schließlich ihr Hund vergiftet wurde, weil zu Beginn der Pandemie Fake-News gestreut wurden, dass auch Haustiere das Virus weitergeben könnten, habe ihr das den Rest gegeben. "Das war so hart für mich". Mittlerweile trifft sich Mira aber wieder mit Freunden, geht ab und zu in ein Café. Die Angst vor unerwarteten Geräuschen und vor Rauch ist aber geblieben.

Zu wenig Psychiater im Libanon 

Mira hat sich ihren Freunden anvertraut, hat sich überall Tipps geholt. "Bisher habe ich noch keinen Psychologen gefunden. Und ich hätte gerne jemanden mit Erfahrung im Bereich Trauma", sagt sie. 

Viele Psychologen bieten ihre Dienste online an, sagt

Psychologin Therese Ward. Sie selbst empfängt häufig Patienten, die mit ihr über ihre Ängste und Sorgen sprechen: "Die Leute kämpfen damit, ihren Alltag zu schaffen. Sie haben Zukunftsängste. Sie erzählen mir oft auch von einer inneren Leere."

Mira möchte keine Online-Therapie. Doch die Wartelisten von Psychologen seien lang, sagt Therese Ward. Und es mangele leider an Psychiatern. Wie viele andere Ärzte hätten auch viele Psychiater das Land verlassen oder seien auf dem Absprung, sagt Joseph Khoury. Dazu kommt: "Die Medikamentensituation ist sehr schlecht - die meisten Arzneimittel sind nicht verfügbar oder extrem teuer, weil ihre Subventionierung weggefallen ist. Die Leute nutzen ihre Vorräte oder bekommen einzelne Tablettenstreifen aus Apotheken. Manche Leute besorgen sich dann Medikamente aus der Türkei, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Ägypten", so Khoury.

Krankenhäuser im Libanon sind schon lange an ihrer Belastungsgrenze angekommen - auch wegen der Corona-PandemieBild: AFP

Keine Subventionen für Medikamente

Gesundheitsminister Firas Abiad hatte Anfang November angekündigt, Teile der Subventionen für Medikamente gegen chronische Krankheiten abzuschaffen. Dieser Schritt hat dazu geführt, dass die Preise für viele Medikamente in die Höhe geschossen sind. Medikamente für psychische Erkrankungen wie Depressionen und Schizophrenie sind mittlerweile dreimal so teuer wie vor der Ankündigung. Und auch Therapien kosten teilweise viel Geld. "Meine Versicherung deckt die Kosten von psychologischen Behandlungen nicht ab", erzählt Mira. Sie müsste ihre Behandlung selbst bezahlen - in einer anhaltenden Wirtschaftskrise sei das zwar eine Herausforderung, für sie aber kein Hindernis, sagt sie.

Es gibt aber auch Organisationenwie die libanesische Nichtregierungsorganisation Embrace, die psychologische Unterstützung kostenfrei anbieten. Aber auch das ist meist mit einer Wartezeit verbunden, denn immer mehr Menschen nehmen diese kostenlosen Behandlungen in Anspruch.

Sorgen vor dem, was im neuen Jahr kommt 

Auch wenn Menschen mit psychischen Erkrankungen immer noch stigmatisiert würden, zeigt sich Therese Ward erfreut darüber, dass sich die Situation diesbezüglich stark verbessert hat. Auch Mira redet offen über das, was sie beschäftigt. Dennoch will sie nicht, dass ihr echter Name bekannt wird, falls zukünftige Arbeitgeber sie einmal googeln sollten. "Ich hänge gerade in der Luft. Ich weiß nicht, was ich in Zukunft machen will. Ich weiß nur, dass ich mir Hilfe suchen muss. Ich will wissen, warum ich so fühle, warum ich Sorgen und Ängste habe, während die, die für die Explosion verantwortlich sind, nachts gut schlafen können."

Bis heute wurde keiner der mutmaßlich Verantwortlichen für die größte bekannte nicht-nukleare Explosion der Geschichte zur Rechenschaft gezogen. Über Neujahr will Mira, die mittlerweile geheiratet hat, mit ihrem Mann einige Freunde im Ausland besuchen. "Wir wissen, dass das neue Jahr nicht leichter wird. Es stehen Wahlen an im Libanon und Omikron ist auf dem Vormarsch. Wir wollen daher noch einmal hier raus."

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