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Politik

Friedensmarsch in Zeiten des Krieges

Anchal Vohra kkl
13. November 2017

52 Tage lang wandern Aktivisten durch den Libanon - für eine demokratische Zukunft. Doch die ist seit dem Rücktritt von Premierminister Saad Hariri weniger sicher denn je. Von Anchal Vohra, Tripoli.

Libanon Friedenszug in Tripoli
Bild: DW/A. Vohra

Ihre Flagge, rot-weiß-rot mit dem Motiv der libanesischen Zeder, flattert im böigen Wind Nordlibanons. Auf der Straße, die von dem Küstenort Aabdeh nach Tripolis führt, marschiert eine Gruppe Libanesen. Unterwegs verteilen sie Exemplare der libanesischen Verfassung an die Menschen, die ihnen begegnen. "Manche weinen, wenn sie das Buch in Händen halten; andere küssen es", sagt Maya Souhaid und überreicht einem Inhaber eines Möbelgeschäftes ein Exemplar; seine Reaktion ist jedoch eher verhalten.

Maya ist Anwältin in einem Unternehmen. An diesem Sonntag versucht sie, gleich drei Aufgaben unter einen Hut zu bringen: Sie muss sich um ihre Kinder kümmern, einen wichtigen Prozess vorbereiten - und 40 Kilometer weit marschieren, um das Wissen über die Rechte zu verbreiten, die in der libanesischen Verfassung festgelegt sind.

Zusammen mit ihrem Mann Nadim gründete Souhaid die Gruppe "Massirat Watan" ("Reise für ein Land"). Ihr Ziel: die Idee einer nationalen Identität in einem Land zu stärken, in dem immer die Zugehörigkeit zu einem Stamm oder einer religiösen Gruppierung die größere Rolle spielte. Die zwölf Mitglieder versuchen, ihren Landsleuten Vertrauen in die grundlegenden Prinzipien zu vermitteln, nach denen ein Staat regiert werden sollte.

Atempause: "Massirat Watan" auf dem Weg durch den LibanonBild: DW/A. Vohra

"Massirat Watan" wendet sich gegen die im Land herrschende Vorstellung, dass es einem Menschen am besten geht, wenn er sich an die Politiker seiner Religion hält. "Politiker teilen öffentliche Aufträge untereinander auf und verdienen so ihr Geld", sagt Maya Souhaid und spielt damit auf die im Libanon wuchernde Korruption an.

Zielgerichteter Marsch durch unsicheres Gelände

Am 1. Oktober machte sich die Gruppe "Massirat Watan" auf den Weg, der sie 52 Tage lang 600 Kilometer weit durchs Land führen soll. Unterwegs sprechen die Gruppenmitglieder in jeder Gegend des Landes mit den Menschen, die sie treffen, darüber, was sie vor allem beschäftigt.

Am 35. Tag des Marsches, am 4. November, stieß die selbstgestellte Aufgabe der Gruppe, den Libanon nach vorne zu bringen, auf ein unerwartetes Hindernis: den plötzlichen Rücktritt von Premierminister Saad Hariri. Im Regierungssystem des Libanon, in dem die höchsten Staatsämter für Angehörige bestimmter religiöser Gruppen reserviert sind, repräsentiert Hariri die Sunniten. Politisch und finanziell wird er von Saudi-Arabien unterstützt.

Bei einer überraschenden Reise nach Riad vor mehr als einer Woche verlas Hariri eine schriftliche Erklärung, in der von einer Bedrohung für sein Leben die Rede war. Er habe Angst, wie sein Vater Rafiq Hariri ermordet zu werden, der im Jahr 2005 bei einer Explosion ums Leben gekommen war. Hinter dem Anschlag soll die Hisbollah gestanden haben, die libanesische Schiitenmiliz, die vom Iran unterstützt wird. Der plötzliche Rücktritt ihres Ministerpräsidenten, verkündet aus dem Ausland, hat bei den Libanesen Gefühle von Demütigung und Wut ausgelöst.

"Die Saudis halten ihn als Geisel gefangen", sagt Maya. Ihre Ansicht teilen viele im Lande. Die Besorgnis ist groß, dass der Libanon auf einen neuen Krieg zusteuert.

Ein Krieg wird wahrscheinlicher

Krieg ist nichts neues für die Libanesen. Von 1975 bis 1990 tobte im Land ein blutiger Bürgerkrieg. Mit dem Nachbarn Israel gab es mehrere gewalttätige Auseinandersetzungen. Das Verhältnis zu den Palästinensern, die im Land Zuflucht gefunden haben, ist angespannt. Die Politik versinkt im Chaos. Seit den letzten Wahlen, die im Jahr 2009 stattfanden, regieren ehemalige militärische Anführer, die sich jetzt als Parlamentarier geben, ohne Mandat der Bevölkerung. Hariris überraschender Rücktritt, ob nun freiwillig oder erzwungen, wirft einen Schatten auf die Zukunft des Libanon.

"Krieg ist möglich, und wenn Krieg ausbricht, müssen wir aufhören", sagt Maya Souhaid voller Besorgnis, fügt aber hinzu, dass ihre Gruppe keineswegs entmutigt ist. "Wir tun alles, was wir können, um sicherzustellen, dass es im Mai 2018 wie geplant Wahlen gibt."

Zwischen den Welten: Ein Hariri-Plakat an der Grenze zweier verfeindeter Stadtteile in TripolisBild: DW/A. Vohra

Politische Beobachter meinen, dass die Wahlen stattfinden können, auch wenn die Regierung zurückgetreten ist. Das Problem liegt woanders: Wenn Hariri nicht in den Libanon zurückkehrt, müssen die Sunniten im Land sich auf einen neuen Kandidaten einigen. Ohne Zustimmung aus Saudi-Arabien ist das unwahrscheinlich.

Aus libanesischen Regierungskreisen hört die DW, dass jetzt die sunnitische Elite am Zug sei. Ein Sprecher, der seinen Namen nicht genannt wissen will, sagte: "Präsident Michel Aoun und seine Verbündeten von der Hisbollah erwarten, dass die sunnitische Führung einen anderen Kandidaten aufstellt."

Hassan Nasrallah, Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, hat zur Ruhe aufgerufen, aber in Tripoli ist die Anspannung greifbar. Die Einschusslöcher in den Mauern von Libanons zweitgrößter Stadt erzählen von wiederholten Gefechten zwischen den Sunniten aus dem Stadtteil Bab al Tabbaneh und den Alewiten von Jabal Mohsin. An der Demarkationslinie zwischen den beiden Stadtteilen halten Soldaten der libanesischen Armee Wache und eine Nichtregierungsorganisation betreibt hier ein Friedenscafé.

Lea Baroudi, die das Café gegründet hat, berichtet von einem verbreiteten Unwillen, sich von den regionalen Machthabern in einen neuen Konflikt treiben zu lassen. Doch obwohl die Libanesen überwiegend gegen die Ausweitung von Feindseligkeiten sind, bezweifelt Baroudi, dass der Frieden halten wird. "Wir befinden uns in einer heiklen Situation", sagt sie und senkt die Stimme. "Die jungen Menschen glauben, dass sie ein Blutvergießen nicht verhindern können, wenn die Machthaber es wollen."

Maya Souhaid (l.): "Wir sind nicht einmal sicher, was morgen sein wird"Bild: DW/A. Vohra

Bei "Massirat Watan" ebenso wie in Regierungskreisen herrscht dagegen eher die Besorgnis vor einem wirtschaftlichen Rückschlag, eine mögliche Folge der saudischen Reaktion auf den wachsenden Einfluss des Iran in der Region, der die Hisbollah unterstützt.

Wirtschaftlliche Sorgen nach Hariris Rücktritt

"Die größte Sorge ist, dass die Saudis die ungefähr 200.000 Libanesen, die im Königreich Saudi-Arabien leben und arbeiten, aus dem Land werfen", sagt Elias Farhat, ein General a.D. der libanesischen Armee. Diese Libanesen schicken jährlich etwa 1,7 Milliarden Euro nach Hause. Diesen Verlust auszugleichen und - was noch wichtiger ist - die Ausgewiesenen wieder aufzunehmen, ist ein Alptraum für den Libanon. Das Land leidet seit Jahren unter Flüchtlingswellen, zunächst von Palästinensern, jetzt von Flüchtlingen aus Syrien.

Seit "Massirat Watan" auf dem Weg für einen Libanon der Zukunft ist, sind frühere Fortschritte wieder verloren gegangen. Die Mitglieder der Gruppe haben den Eindruck, mit Hariris Rücktritt ist das Land auf dem Weg in eine düstere Zukunft. Die Gruppe ist aber entschlossen, ihre Wanderung und die Gespräche mit ihren Landsleuten zu Ende zu bringen. Am 22. November, dem Unabhängigkeitstag des Libanon, wollen sie in Beirut eintreffen. Aber es ist nicht einfach, die Hoffnung zu bewahren in einem Land, in dem Krieg die Regel und der Frieden die Ausnahme ist.

"Die Wahlen sind in sechs Monaten. Aber wir sind nicht einmal sicher, was morgen geschieht", sagt Maya Souhaid und umklammert die Hände ihrer neunjährigen Tochter Yasmina und ihres Mannes Nadim.

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