1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikNahost

Beirut: Eltern wollen Gerechtigkeit für "Lexou"

Diana Hodali
3. August 2021

Vor einem Jahr kam es in Beirut zu einer heftigen Explosion. Über 200 Menschen starben, die Verantwortlichen wurden bisher nicht zur Rechenschaft gezogen. Diana Hodali über ein Paar, das um sein getötetes Kind trauert.

Libanon Beirut nach der Explosion von 2020: Alexandra Najjars Zeichnung hängt in der City
Künstler Brady Black hat allen Opfern der Explosion ein Gesicht gegeben auf einer Mauer inmitten der Beiruter Innenstadt - auch Alexandra "Lexou" Naggears Bild ist zu sehenBild: Daniel Carde/Zumapress/picture alliance

Paul Naggear und Tracy Awad-Naggear dachten, dass sie und ihre drei Jahre alte Tochter Alexandra in ihrer Wohnung in Beirut sicher seien. Auch wenn sie wenig vom Staat erwarteten: Die Wirtschaft befand sich in der Abwärtsspirale, die Corona-Pandemie gab dem Libanon den Rest. Dass es noch schlimmer kommen könnte, hatte kaum einer geglaubt. Doch das sollte sich am 4. August 2020 ändern. Ein Knall, Rauch steigt auf, eine heftige Explosion. Das Fensterglas der Wohnung der Naggears im Stadtteil Gemmayzeh, nahe dem Beiruter Hafen, birst.

Mutter Tracy und Tochter Alexandra, genannt Lexou, erleiden schwere Verletzungen. Einige Tage später stirbt die kleine Alexandra im Krankenhaus. Sie ist eines der jüngsten Opfer der heftigen Hafen-Explosion, bei der mehr als 200 Menschen getötet wurden. Tausende wurden seinerzeit verletzt, 300.000 Menschen verloren ihre Häuser und viele mehr wurden ihrer Träume beraubt. 2750 Tonnen Ammoniumnitrat, seit 2013 ungesichert im Beiruter Hafen gelagert, führten zu einer der größten nicht-nuklearen Explosionen.

Der zerstörte Hafen von Beirut: Künstler Nadim Karam hat eine Statue aus den Trümmern gebautBild: JOSEPH EID/AFP via Getty Images

Kein Vertrauen in die Justiz

"Wie zu erwarten, uns geht es nicht gut", sagt Tracy Awad-Naggear in einem Video-Gespräch. "Wir leben in einem Land, in dem alles dunkel ist. Es gibt keine Gerechtigkeit. Nichts funktioniert."

Viele Libanesen haben dem Land seit der Explosion den Rücken gekehrt, doch die Naggears konnten und wollten nicht gehen. Dem Ehepaar war dabei von Beginn an klar, dass es sich nicht auf das libanesische Justizsystem verlassen könne, um zu erfahren, wer für die Explosion und für die Lagerung des Ammoniumnitrats - und damit auch für den Tod ihrer Tochter - verantwortlich ist.

"Es ist wichtig für uns, die Wahrheit zu erfahren. Ich weiß, dass das Lexou nicht zurückbringt und auch unseren Schmerz nicht schmälert. Aber selbst wenn es zehn Jahre dauert, ich habe Zeit", sagt Tracy Awad-Naggear. Sie wolle die Verantwortlichen hinter Gittern sehen. "Ich will nicht, dass andere Familien, Kinder, Ehemänner, Ehefrauen, so etwas auch erleben müssen", sagt sie. "Ich will dieses Land zurückgewinnen, dass uns diese Kriminellen genommen haben", sagt sie über führende Politiker und weitere Offizielle. "Sie haben mir nicht nur meine Tochter genommen, sondern auch mein Land, mein Haus, mein Leben."

Unabhängige Untersuchung gefordert

Gemeinsam mit anderen Überlebenden und Angehörigen sowie nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen, kämpfen die Naggears für Gerechtigkeit und für die Aufarbeitung der Explosion. Die Organisation Human Rights Watch hat im Namen aller Beteiligten und Betroffenen in einem Brief an den UN-Menschenrechtsrat "eine internationale, unabhängige und unparteiische Untersuchungskommission" gefordert: "Wir fordern Sie auf, diese Initiative zu unterstützen, indem Sie eine Resolution zur Einrichtung einer solchen Mission im Menschenrechtsrat einbringen", heißt es in dem Brief. Dazu müsste irgendein Land die Resolution im Menschenrechtsrat einbringen - das ist bisher noch nicht geschehen.

Die dreijährige Alexandra "Lexou" Naggear starb infolge der Explosion - ihre Eltern Tracy und Paul kämpfen für GerechtigkeitBild: privat

Elite behindert Aufklärung

Der Kampf der Naggears und ihrer Mitstreiter ist nicht immer leicht, denn die herrschende politische Klasse hat es bis heute geschafft, sich der Verantwortung ihrer Rolle bei der Hafenkatastrophe vom 4. August zu entziehen.

Eigentlich hatte die Politik angekündigt, innerhalb von fünf Tagen aufzuklären, wer die Verantwortung für die Explosion trägt. Doch fast 365 Tage später ist noch nichts passiert. Im Gegenteil: Die Politik versucht, die juristische Aufklärung der Explosion zu verhindern. Als der erste Richter, Fadi Sawan, hochrangige Politiker wie den ehemaligen Ministerpräsidenten Hassan Diab vorladen wollte, wurde dieser von der Politik abgesetzt. Mittlerweile ist Richter Tarek Bitar mit dem Fall betraut. Mit ihm als Richter käme nun immerhin ein kleines bisschen Bewegung in den Fall, sagt Tracy Awad-Naggear.

Doch auch ihm werden Steine in den Weg gelegt. Zuletzt habe sich Innenminister Mohamed Fehmi sogar geweigert, Abbas Ibrahim, den Chef der Behörde für Allgemeine Sicherheit, durch Untersuchungsrichter Bitar, vernehmen zu lassen, berichtet Diana Menhem, Geschäftsführerin der libanesischen Organisation "Kulluna Irada" in Beirut, die von In- und Auslandslibanesen finanziert wird. Parlamentsabgeordnete versuchten ebenfalls, die Befragung einiger Politiker zu verhindern. Dabei ist mittlerweile klar, dass hochrangige Politiker, wie Präsident Michel Aoun, über das Ammoniumnitrat und die davon ausgehende Gefahr informiert waren. Doch die politische Klasse wolle sich selbst schützen und alle möglichen Beweise im Zusammenhang mit der Explosion verbergen, kritisiert Menhem. Sie ist keineswegs die Einzige: Viele Libanesen wünschen sich ein Ende der notorischen Straflosigkeit im Libanon, denn auch politische Morde wurde in der Vergangenheit nie aufgeklärt.

Ein Komitee der Opfer-Angehörigen verlangt die Aufhebung der Immunität einiger Politiker.

Die EU ist derweil bereit, wegen der Krise im Libanon Sanktionen gegen die politische Führung des Landes zu verhängen. Möglich seien Strafmaßnahmen gegen Menschen und Einrichtungen, hieß es. Die EU-Mitgliedsstaaten müssen der Sanktionsliste noch einstimmig zustimmen.Paul Naggear hat eine klare Forderung: Er wünscht sich, dass sämtliche Regierungen ihre diplomatischen Beziehungen zur herrschenden Klasse im Libanon abbrechen. "Von dem Moment an, als sie begonnen haben, die Justiz zu behindern, wurden sie zu Verrätern und sollten als solche behandelt werden", sagt er eindringlich.

Dem Libanon geht er Treibstoff aus - daher stehen Autos teilweise Stunden an der Tankstelle anBild: Ibrahim Chalhoub/AFP/Getty Images

Das Land befindet sich wegen Missmanagement und Korruption in einer verheerenden wirtschaftlichen Krise: Die Währung hat 90 Prozent ihres Wertes verloren, was zu einer Hyperinflation und einem Mangel an Treibstoff, Medikamenten und anderen wichtigen Gütern geführt hat. Strom ist daher auch kaum vorhanden, die Zahl der Corona-Infektionen steigt wieder an. Auch das UN-Kinderhilfswerk Unicef schlägt Alarm: Die Wasserversorgung könnte bald zusammenbrechen, weil Treibstoff und Ersatzteile für die Pumpen fehlten. 

Dazu kommt: Seit einem Jahr hat der Libanon keine handlungsfähige Regierung mehr. Nachdem es dem ehemaligen Premier Saad Hariri nicht gelungen war eine Regierung zu bilden, wurde kürzlich Nadschib Mikati mit der Regierungsbildung beauftragt. Mikati ist kein unbeschriebenes Blatt. Er war zwischen 2011 und 2014 bereits Ministerpräsident des Libanon: "Dieser Mann war im Amt, als das Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut ankam", sagt Paul Naggear. 2019 wurde auch ein Verfahren wegen des Vorwurfs der Korruption gegen Mikati eingeleitet. Im Netz häufen sich die verzweifelten Kommentare vieler Libanesen wegen der Ernennung Mikatis. "Die politische Klasse weigert sich schlicht, eine komplett unabhängige Regierung zu bilden", sagt auch Diana Menhem von "Kulluna Irada".

Präsident Michel Aoun (links) hat Nadschib Mikati mit der Regierungsbildung beauftragtBild: Dalati Nohra/Lebanese Official Government/AP Photo/picture alliance

Kampf gegen Korruption

Dass die Naggears das Land nicht verlassen haben, hat ihnen auch einige wichtige Erfolge im Kampf für mehr Gerechtigkeit eingebracht. So hat Ingenieur Paul Naggear als Teil einer säkularen Liste die Vorwahlen des Berufsverbands für Ingenieure und Architekten gewonnen. Dieser Verband spielt eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau Beiruts. Auch wenn der Berufsverband keine Gesetze erlassen kann, war der Sieg dennoch wichtig: "Das gibt uns die Möglichkeit, Korruption zu stoppen, weil jedes Infrastrukturprojekt in Beirut von uns abgesegnet werden muss", sagt Paul Naggear. 

Die für 2022 geplante Parlamentswahl sei essenziell, sagt Diana Menhem: Nur wenn oppositionelle Kräfte ausreichend Stimmen bekämen, könnten diese sich stärker für die Aufklärung der Explosion einsetzen. In der Zwischenzeit wollen die Naggears weiterkämpfen. Empathie habe ihnen aus der politischen Elite bisher keiner entgegengebracht, sagt Tracy Awad-Naggear. Auch wenn die derzeitige Justizministerin sich zwei Mal inoffiziell bei ihnen gemeldet habe. "Wenn sie kooperieren würden und Empathie zeigten, würden sie hinter Gittern landen."

Solidarität und Gebete

Vor dem ersten Jahrestag der Explosion ist den Naggears mulmig zu Mute. Sie haben gemeinsam mit ihren Mitstreitern zu einem Tag der Solidarität und Gebete unter dem Motto "Für Gerechtigkeit, für Befreiung" aufgerufen.

Den Libanon wollen die Naggears so lange nicht verlassen, bis sie Gerechtigkeit für ihre Tochter Alexandra und die anderen Opfer erhalten haben, sagen sie. "Wir haben den Kampf begonnen - und wir werden den Kampf weiterführen", sagt Tracy Awad-Naggear. "Ich habe ein Recht auf Gerechtigkeit."

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen