1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikNahost

Libanon im Lockdown: Ein Land im Chaos

Diana Hodali
6. Februar 2021

Corona, Wirtschaftskrise, Explosion: Die Situation im Libanon ist angespannt. Derzeit herrscht ein strikter Lockdown - und der setzt vielen zu. Denn bis heute leiden sie unter Traumata und wirtschaftlichen Schäden.

Libanon Beirut Graffiti Beirut will rise
Bild: Joseph Eid/APF/Getty Images

Nada ist erschöpft. "Ich habe das Gefühl, dass die gesamte Last des vergangenen Jahres mir fast die Luft abschnürt", sagt die junge Libanesin, die ihren Nachnamen nicht nennen will. Seit fast einem Jahr arbeitet die Multimedia-Producerin im Homeoffice. Nebenbei beendet sie ihren Master in Marketing und Kommunikation. Sie gibt sich alle Mühe, zu lächeln. Wer Nada kennt, weiß, dass sie das Glas eigentlich immer halb voll sieht. Doch die jetzige Situation setzt ihr sichtlich zu. "Es ist ja nicht nur, dass wir alle gerade im Lockdown sind und die Corona-Krise alle im Griff hat. Ich hatte so viele Pläne im vergangenen Jahr, wir wollten uns nach einer Wohnung umschauen. Aber nichts geht. Die Explosion hat alles verändert."

Seit einem Jahr arbeitet Nada, die ihren Nachnamen nicht nennen will, im HomeofficeBild: Privat

Verschleppte Aufklärung der Explosion vom 4. August 2020

Mit dieser Äußerung spielt die junge Frau nicht nur auf die Wirtschaftskrise des Landes an. Sechs Monate ist es her, dass der gewaltige Pilz einer Ammoniumnitrat-Explosion Teile der libanesischen Hauptstadt zerstörte, mehr als 200 Menschen das Leben kostete, mehr als 6000 Bürger verletzte und rund 300.000 Personen obdachlos machte. Die Schäden sind immens, der Wiederaufbau geht nur schleppend voran.

Die libanesischen Behörden haben es in den letzten sechs Monaten versäumt, der katastrophalen Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 gerecht zu werden, schreibt die Organisation Human Rights Watch. Sie haben der Öffentlichkeit bisher kaum Einzelheiten zu den schleppenden und undurchsichtigen Untersuchungen der Explosionsursache mitgeteilt. Trotz zahlreicher Beweise und Dokumente, aus denen hervorgeht, dass hochrangige libanesische Politiker und Sicherheitsbeamte seit Jahren von der Existenz des Ammoniumnitrats gewusst haben, wurde bisher aus den oberen Reihen niemand zur Rechenschaft gezogen. Auch wenn bei vielen Bürgern die körperlichen Wunden geheilt sind, sind viele bis heute traumatisiert. Sie wünschen sich Aufklärung.

Libanon - im strengsten Lockdown der Welt

Doch der mit den Ermittlungen beauftrage Richter Fadi Sawwan lässt seine Untersuchungen mindestens so lange ruhen, solange das Land sich im Lockdown befindet. "Hier glaubt aber eigentlich keiner daran, dass die wirklichen Verantwortlichen jemals bestraft werden", sagt Nada. Die Versuche einiger politischer Führer, die Ermittlungen einzustellen, verstärken für viele Menschen im Libanon die Notwendigkeit einer unabhängigen internationalen Untersuchung.

Seit Mitte Januar befindet sich der Libanon aufgrund der hohen Corona-Infektionszahlen im Lockdown. Nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums haben sich seit Beginn der Pandemie etwa 310.000 der gut sechs Millionen Bürger infiziert, rund 3400 Menschen sind bisher gestorben. Die Dunkelziffer dürfte größer sein.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab bekannt, dass mehr als 90 Prozent der landesweiten Intensivbetten belegt seien. Auch der Sauerstoff geht langsam aus. Und aufgrund mangelnder Kapazitäten werden an COVID-19-Erkrankte teilweise in ihren Autos auf den Krankenhausparkplätzen behandelt.

Beirut: Keiner kann raus - außer mit GenehmigungBild: Joseph Eid/AFP/Getty Images

Laut einer Statistik der Universität von Oxford befindet sich das Land derzeit im strengsten Lockdown der Welt. Die Maßnahmen sind kaum mit jenen in Deutschland vergleichbar. Es besteht eine 24-stündige Ausgangssperre, weder zur Arbeit noch zum Einkaufen dürfen die Bürger nach draußen. Viele Supermärkte bieten Lieferdienste an. Nur mit einer Genehmigung kann man dringend nötige Dinge erledigen. 

Ab der kommenden Woche sollen die Restriktionen schrittweise gelockert werden. Der Innenminister der kommissarischen Regierung, Mohammed Fahmi, kündigte eine Öffnung in vier Phasen an. Die erste zweiwöchige Phase soll demnach am Montag beginnen. 

Die Lebensmittel gehen aus

Der libanesische Verband der Lebensmittelimporteure hat angesichts der schweren Wirtschaftskrise und der strikten Corona-Beschränkungen Alarm geschlagen, was die Lebensmittelversorgung im Land betrifft. "Zusammen werden diese Faktoren zu einer Verknappung der Lebensmittelvorräte um etwa die Hälfte oder mehr führen", zitierte die staatliche libanesische Nachrichtenagentur NNA aus einer Erklärung des Verbands.

"Es ist bereits soweit", sagt Nada. "Oft können uns die Supermärkte nur noch die überteuerten Produkte liefern oder die, die keiner will, weil alles andere ausverkauft ist." Das könne man sich alles kaum noch leisten. Die libanesische Wirtschaft war bereits vor der Pandemie stark angeschlagen.

Die Nahrungsmittelpreise haben sich aufgrund der Währungsabwertung innerhalb des vergangenen Jahres verdreifacht. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) leben mehr als 55 Prozent der knapp sechs Millionen Libanesen in Armut, das sind rund doppelt so viele wie im Jahr 2019.

Die Menschen können sich kaum noch ihre Nahrungsmittel leisten - daher kam es in Tripoli zu Auseinandersetzungen Bild: Hussein Malla/AP Photo/picture alliance

Krawalle in Tripoli, weil die Menschen Hunger haben

In den nordlibanesischen Stadt Tripoli ist es daher in den vergangenen Tagen zu Krawallen gekommen, "weil die Menschen Hunger haben und keine finanzielle Unterstützung vom Staat bekommen", sagt Shafik Abdelrahman. Er ist einer der Gründer der Nichtregierungsorganisation Utopia mit Hauptsitz in Tripoli. Im Fokus ihrer Arbeit stehen soziale Themen und Konflikte.

Tripoli hat etwa 500.000 Einwohner. Es ist die zweitgrößte Stadt des Libanon, 85 Kilometer nördlich der Hauptstadt Beirut gelegen und nach einem Bericht der Weltbank eine der ärmsten Metropolen entlang der gesamten Mittelmeerküste. Auch Nada hat oft darüber nachgedacht, ob es nicht wichtig wäre, genau jetzt, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. "Es gibt so vieles, was wir einfordern müssen. Und dann denke ich wieder, dass ich mich an die Maßnahmen halten sollte", sagt sie. "Aber ich verstehe alle, die protestieren, sehr gut."

Lokman Slim wurde ermordet - er war Autor, Regisseur und kritisierte die Hisbollah offenBild: Colin Bertier/AFP/Getty Images

Hisbollah-Kritiker Lokman Slim ermordet

Das politische Klima insgesamt sei angespannt, erzählt Shafik Abdelrahman. Unter die Demonstranten in Tripoli zum Beispiel hätten sich auch Anhänger verschiedener politischer Lager gemischt, weil sie gegen die einseitige Besetzung verschiedener Sicherheitsposten protestieren wollten. Traditionell gilt Tripoli als politische Hochburg des designierten Ministerpräsidenten Saad Hariri, doch keiner der Posten wurde aus seiner Partei besetzt - stattdessen mit Anhängern von Staatspräsident Michel Aoun. Mit Blick auf bevorstehende Wahlen gefällt das weder Hariri noch seinen Anhängern.

Dass es im Land brodelt, zeigt auch die Ermordung des bekannten Hisbollah-Kritikers Lokman Slim. Er setzte sich gemeinsam mit seiner Frau mit seinem Dokumentations- und Kulturzentrum UMAM mitten im von Hisbollah kontrollierten Gebiet Dahiyeh für die Aufarbeitung der Geschichte des Libanon ein. Im vergangenen Jahr kam es zu mehreren ungeklärten Ermordungen mit möglicherweise politischem Hintergrund. Lokman Slims Ermordung und auch andere Fälle zeigen das Ausmaß an Unterdrückung politischer Opposition. Auch bei diesem Mord rechnet keiner mit Aufklärung, weil eine Kultur der Straflosigkeit im Libanon vorhanden ist.

Kein Vertrauen in den Staat

Die Regierung könnte Sorge vor Protesten haben, sagt Nada. "Ich kann von diesem Staat nichts erwarten, solange immer noch dieselben Politiker im Land sind, die nur ihre eigenen Interessen vertreten und nicht imstande sind, das Land zu regieren", sagt sie.

Das bereitet ihr auch Sorge mit Blick auf eine mögliche Corona-Impfung. Das Land soll Mitte Februar möglicherweise erste Dosen des Impfstoffs der Firma Pfizer/BioNTech bekommen. "Ich traue ihnen nicht zu, das bei den notwendigen Temperaturen vernünftig zu lagern", sagt sie, und spielt damit auf die Lagerung des Ammoniumnitrats im Hafen von Beirut an, die zur großen Explosion geführt hatte. 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen