1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Libanons schwindende Mittelschicht

23. Januar 2023

Seit Jahren wird der Libanon von politischen und wirtschaftlichen Krisen erschüttert. Für die Bevölkerung hat das schwerwiegende Folgen. In den kommenden Jahren wird sich die strukturelle Ungleichheit noch verstärken.

Libanon | Bettelndes Kind
Die Armut im Libanon wächst, bettelnde Kinder gehören inzwischen zum Beiruter StraßenbildBild: Patrick Baz/AFP/Getty Images

In der libanesischen Hauptstadt Beirut stoßen dieser Tage Welten aufeinander. Vor den angesagten Restaurants und Bars parken teure Autos, während daneben Menschen aller Altersstufen in den Mülleimern nach etwas Essbarem wühlen. "Es betteln auch immer mehr Menschen in den Straßen. Hauptsächlich Kinder, aber auch alte Menschen", erzählt Anna Fleischer, Leiterin des Beiruter Büros der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung, der DW. Auch wenn man den Menschen ihre Staatsangehörigkeit nicht ansehe, könne man doch annehmen, dass darunter viele syrische Flüchtlinge, aber auch Libanesen seien, fügt sie hinzu.

Nach Jahren der politischen Instabilität, gepaart mit einer andauernden Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie und die Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 noch verschärft wurde, befindet sich das Land kurz vor dem Zusammenbruch. Bei der Situation im Libanon handelt es sich nach Einschätzung der Weltbank nicht nur um "eine der schwersten Krisen weltweit seit Mitte des 19. Jahrhunderts", in ihrem Bericht zum Libanon hält die Weltbank es zudem für wahrscheinlich, dass "ein nie da gewesenes institutionelles Vakuum eine Einigung über die Lösung der Krise und die Ratifizierung entscheidender Reformen verzögert und damit die Not des libanesischen Volkes noch vergrößert".

Die Mittelschicht schrumpft, der Hunger wächst

Die Talfahrt der Wirtschaft hat zusammen mit einer Entwertung der libanesischen Währung um 95 Prozent die Mittelschicht des Landes nahezu ausradiert. Im März 2020 stufte die Weltbank den Libanon in die untere Einkommenskategorie der Länder mit mittlerem Einkommen ein. "Eine Person mit einem Einkommen von 1,5 Millionen libanesischen Pfund verfügte vor der Krise über einen Gegenwert von 1000 US-Dollar. Mittlerweile entspricht das weniger als 200 US-Dollar", erläutert Hussein Cheaito, Entwicklungsökonom am Beiruter The Policy Institut, der DW.

In einem kürzlich von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) veröffentlichten Bericht zu Hunger und Armut im Libanon hebt Lena Simet hervor, dass "Millionen von Menschen im Libanon in die Armut gedrängt wurden und auf Essen verzichten". Die Wissenschaftlerin, die sich mit wirtschaftlicher Gerechtigkeit befasst, verweist auf besorgniserregende Entwicklungen bei der Ernährungsunsicherheit der untersten Einkommensgruppen.

Immer mehr Menschen kommen kaum über die Runden und sind daher sogar dazu gezwungen, auf Mahlzeiten zu verzichtenBild: JOSEPH EID/AFP

Ein ähnliches Bild zeichnet ein Bericht des unabhängigen Recherchenetzwerks Arab Barometer vom September über die Ernährungsunsicherheit in Nahost, demzufolge fast die Hälfte der Libanesen angaben, dass ihnen die Lebensmittel ausgingen, bevor sie wieder Geld hätten, um neue zu kaufen.

Extreme soziale Ungleichheit

Es sieht nicht so aus, als würde sich daran etwas ändern. Auch das Steuersystem trägt nicht zu einer Verbesserung der Situation bei. "Das libanesische Steuersystem ist außergewöhnlich regressiv. Es gibt keine Vermögensteuer, und die Unternehmenssteuern zählen im Vergleich mit dem OECD-Schnitt zu den niedrigsten der Welt", sagt Hussein Cheaito. Von diesem Steuersystem profitieren "die politische Klasse und ihre Geschäftspartner, denn dieses eine Prozent der Bevölkerung verfügt über mehr als 70 Prozent des Volkseinkommens", unterstreicht er. Damit verfüge der Rest der Bevölkerung nur über einen sehr geringen Prozentsatz des Volksvermögens.

Wer sein Gehalt in libanesischen Pfund ausgezahlt bekommt oder Unterstützung durch eine Wohltätigkeitsorganisation erhält, ist zusätzlich benachteiligt. Die Banken erlauben nur Kontoinhabern, deren Konten in US-Dollar geführt werden, begrenzte Summen Bargeld in US-Dollar abzuheben. 

Die Entwertung der libanesischen Währung führte im August 2022 zu ProtestenBild: Dario Sabaghi/DW

Während der letzten 20 Jahre haben Libanons Banken das libanesische Pfund zudem an den US-Dollar gekoppelt. Für einen US-Dollar gibt es 1500 libanesische Pfund. Am 1. Februar soll dieser Wechselkurs angepasst und auf 15.000 libanesische Pfund festgesetzt werden. Das mag eine Verzehnfachung sein, liegt jedoch noch immer weit unter dem Schwarzmarktkurs. Dort gibt es pro US-Dollar 50.000 libanesische Pfund.

Für alle, die für internationale Unternehmen arbeiten oder über andere Wege verfügen, an US-Dollar zu kommen, ist das Leben jedoch recht preisgünstig. Das erklärt auch die gefüllten Cocktail-Bars und ausgebuchten Restaurants.

Die Dollarisierung der Wirtschaft

"Die Realität sieht heute so aus, dass die Überweisungen von Familienmitgliedern aus dem Ausland eine der wichtigsten Einkommensquellen für Familien darstellen", erläutert Lynn Zovighian, Mitbegründerin und Geschäftsführerin von The Zovighian Partnership, einer familiengeführten Plattform für soziale Investitionen, die forschungsgestützte sozioökonomische Maßnahmen entwickelt.

"Der Zusammenbruch des Privatsektors und die abzusehende Schrumpfung des öffentlichen Sektors treiben die Arbeitslosenzahlen nach oben", führt Zovighian aus und fügt hinzu: "Der Libanon erlebt außerdem eine faktische Dollarisierung seiner Wirtschaft, allerdings nicht per Gesetz oder durch die Politik. Das geschieht ohne Preiskontrollen oder Strafmaßnahmen gegen finanziellen Missbrauch."

Treibstoffmangel und hohe Preise machen das Tanken zum Luxus für einige WenigeBild: Mohamed Azakir/REUTERS

Gespräche zwischen der libanesischen Regierung und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) haben zu einer Einigung auf Mitarbeiterebene über ein Programm im Wert von rund drei Milliarden US-Dollar für die nächsten 46 Monate geführt. Ein Finanzsanierungsplan zum Schutz der Schwächsten in der Gesellschaft war jedoch nicht Teil der Vereinbarung. 

"Drei Milliarden US-Dollar reichen in Anbetracht der Verluste auf dem Finanzsektor in Höhe von mindestens 70 Milliarden kaum, um das Land wieder auf die Füße zu stellen" klagt Cheaito. Die Vereinbarung mit dem IWF macht außerdem deutlich, dass sich der Libanon angesichts der Schwäche der libanesischen Regierung und des öffentlichen Sektors auf staatlich geführte Unternehmen und die Privatisierung der sozialen und öffentlichen Dienstleistungen konzentrieren sollte, ergänzt er.

Makroökonomische Stabilisierung

"Welche Garantien haben wir, dass private Unternehmen nicht die Preise erhöhen und die Inflation antreiben, wie wir es in Lateinamerika gesehen haben? Das könnte bedeuten, dass nur die Ultrareichen Zugang zu Dienstleistungen haben", befürchtet der Ökonom. 

Nur eine makroökonomische Stabilisierung kann das Land - und damit die Mehrheit der Bevölkerung - seiner Meinung nach vor dem Zusammenbruch bewahren. "Ich beziehe mich auf die Umverteilung der Verluste im Finanzsektor, bei der sichergestellt wird, dass wir einen klaren Finanzsanierungsplan haben, der vor allem die kleinsten Einleger und Menschen mit einem mittleren oder niedrigen Einkommen beschützt", betont er. "Ihr Vermögen muss rekapitalisiert werden. Andernfalls wird es unmöglich sein, die Einkommensschere zu verkleinern."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

 

Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen