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Liberale lassen Merkel hinter sich

5. August 2021

Mit der scheidenden Kanzlerin hat die FDP traumatische Erfahrungen gemacht. Doch unter Parteichef Christian Lindner präsentiert sie sich selbstbewusst und zuversichtlich..

Deutschland Christian Lindner Regierungserklärung Coronavirus Bundestag
FDP-Chef Christian Lindner (r.) gehört im Bundestag zu den schärfsten Kritikern von Angela Merkels (l.) Corona-PolitikBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Blick zurück im Zorn? Das war gestern. Die Freie Demokratische Partei Deutschlands (FDP) hat ihre schwierige Vergangenheit ganz passabel aufgearbeitet. Der Schock 2013, als sie erstmals aus dem Bundestag gewählt wurde, liegt schon eine Weile zurück. Dass er tiefe Spuren hinterlassen hat, war nach dem Comeback 2017 trotzdem zu spüren: als die Liberalen im letzten Moment der Mut verließ und die zum Greifen nahe Jamaika-Koalition mit Konservativen (CDU/CSU) und Grünen doch nicht zustande kam.

Und dann war da noch der Tabubruch in Thüringen, als sich der FDP-Mann Thomas Kemmerich im Februar 2020 mit den Stimmen der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) zum Ministerpräsidenten wählen ließ. Zwar trat der vorher fast unbekannte Politiker schon wenige Tage später zurück, doch der angerichtete Flurschaden war gewaltig. Aber auch davon hat sich die FDP inzwischen erholt. In Umfragen erreicht sie nach langer Durststrecke wieder zweistellige Ergebnisse und damit mindestens das Niveau der Bundestagswahl 2017 (10,6 Prozent).

Demonstranten fordern den Rücktritt des mit AfD-Stimmen gewählten Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich Bild: Reuters/A. Hilse

Trotzdem ließ Parteichef Christian Lindner vor vier Jahren die völlig unverhoffte Chance auf eine Rückkehr in die Bundesregierung ungenutzt. Zu tief saß wohl der Stachel, den Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der gemeinsamen Regierungszeit von 2009 bis 2013 hinterlassen hatte. Die FDP fühlte sich an ihrer Seite nie richtig wohl und ernst genommen. Ihr liberales Profil und Credo - weniger Staat, mehr privat - passte nicht zum Politikstil Merkels, die sich inhaltlich zunehmend der SPD annäherte.

Die FDP war 45 Jahre an Bundesregierungen beteiligt

Am Ende fehlte der FDP jedes Selbstbewusstsein und Gespür, um eigene Akzente zu setzen. Was folgte, war die Höchststrafe für eine Partei, die seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 immer dem Parlament angehört und in fast 50 Jahren mitregiert hatte: Sie flog aus dem Bundestag. Und weil Angela Merkel bei der FDP-Rückkehr noch immer da war und designierte Kanzlerin, winkte Christian Lindner nach wochenlangen Sondierungsgesprächen dann doch lieber ab. "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren" - mit diesem in die Geschichtsbücher eingegangenen Satz verabschiedete sich die FDP für vier Jahre in die Opposition.

November 2017: FDP-Chef Christian Lindner erklärt, warum seine Partei lieber nicht regieren will Bild: Reuters/H. Hanschke

Nach der Bundestagswahl im September könnte es für die Liberalen ein Déjà-vu geben, denn eine grün-schwarz-gelbe Mehrheit scheint plötzlich wieder möglich zu sein. Im zweiten Anlauf eine Jamaika-Koalition, wie sie in Anlehnung an die Fahne des Karibik-Staates genannt wird. FDP-Chef Lindner gibt sich dafür offen. Merkel hat ihren Rückzug aus der Politik angekündigt, die Karten werden also neu gemischt. An der Parteibasis, vor allem unter den Jüngeren, können sich das Viele vorstellen. Oder auch ein grün-rot-gelbes Ampel-Bündnis.

Neue, frische Gesichter: Ria Schröder und Konstantin Kuhle

Ria Schröder hat da keine Berührungsängste. Sie war bis 2020 Vorsitzende der FDP-Nachwuchsorganisation Junge Liberale (Julis) und will nun in den Bundestag. Ihre Chancen sind gut: Sie kandidiert im Stadtstaat Hamburg auf Platz zwei. In ihrer Bewerbung für einen aussichtsreichen Listenplatz forderte sie einen "Mutausbruch". Was sie damit meint, skizziert die Juristin im Interview mit der Deutschen Welle: mutige, entschlossene Politik vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Digitalisierung, Klimaschutz und Bildungspolitik - ihrem "Herzensthema".

Ria Schröder hofft auf einen "Mutausbruch"

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Fragt man sie, wie sie zur Politik gekommen sei, fallen zunächst keine Namen. Stattdessen redet sie über "Freunde", mit denen sie viel diskutiert habe. Und plötzlich war er da, der Gedanke, sich in einer Partei zu engagieren: "Ich möchte nicht länger auf dem Sofa sitzen und meckern, sondern ich will selber was tun." Dann nennt sie aber doch noch einen Namen. Nicht den irgendeiner FDP-Legende, sondern: Konstantin Kuhle.

Der ist schon da, wo Ria Schröder hinmöchte: im Deutschen Bundestag. Ein junger Mann wie sie, ihr Vorgänger als Vorsitzender der Jungen Liberalen. Von Kuhle fühlt sie sich inspiriert. Sollte die 29-Jährige ebenfalls den Sprung ins Parlament schaffen, wird sie in ihrer Fraktion allerdings einer Minderheit angehören. Denn in der FDP dominieren traditionell die Männer. In der aktuellen Bundestagsfraktion sind es 61, denen 19 Frauen gegenüberstehen.

Frauen haben es in der FDP immer noch schwerer

Ria Schröder bedauert, dass es immer noch nicht gelungen ist, daran etwas zu ändern. Dafür brauche es authentische, glaubwürdige Gesichter, "die zeigen, dass die FDP eine Partei für sie ist". Dafür wolle sie kämpfen - wohl wissend, wie schwer es Frauen auch unter dem seit 2013 amtierenden Partei- und Fraktionsvorsitzenden Christian Lindner haben. Abschreckendes Beispiel ist die Art und Weise, wie er im Herbst 2020 seine Generalsekretärin Linda Teuteberg aus dem Amt drängte - einschließlich eines Herrenwitzes. Für den er einen Shitstorm in den sozialen Netzwerken erntete und sich nach anfänglichem Zögern entschuldigte.

Junge Leute wie Ria Schröder und Konstantin Kuhle stehen stellvertretend für eine neue Generation, die den oft zügellosen Marktkapitalismus der vergangenen 40 Jahre ein wenig zurückschrauben wollen. So sagte Kuhle 2017, damals Vorsitzender der FDP-Jugendorganisation "Junge Liberale" im DW-Interview zum Thema Klimaschutz:: "Ich habe manchmal das Gefühl, die FDP ist im Bereich der Umweltpolitik ein bisschen zu sprachlos – auch in der Kommunikation nach außen." Das klang seinerzeit aus dem Mund eines jungen Abgeordneten wie eine Annäherung an die Grünen, mit denen Parteichef Lindner noch immer ein wenig fremdelt. Allerdings zeigt er sich inzwischen offen für alle politischen Konstellationen ohne Beteiligung der AfD und der Linken.

Konstantin Kuhle: 'Selbstbestimmung in allen Lebenslagen'

12:03

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Früher linksliberal, heute wirtschaftsliberal

Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen (Nordrhein-Westfalen) sieht inzwischen neue Perspektiven für die Liberalen. Auch unter dem Eindruck der zuweilen umstrittenen Corona-Politik unter Angela Merkel. Jede Kritik an der Regierung werde "wertebasiert liberal begründet und eingeordnet". Dadurch sei sie nicht "tagesaktuell-willkürlich ein Reflex der Opposition", sondern dem Ziel zuzuordnen, individuelle Entscheidungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen.

Ähnlich äußert sich in Person Gerhart Baums auch einer aus der alten, sozialliberal geprägten Garde der FDP: Seine Partei habe im Ganzen gesehen ihre Rolle als Oppositionspartei "überzeugend wahrgenommen", schreibt er in seinem jüngst veröffentlichten Buch mit dem programmatischen Titel "Freiheit".

"Freiheit" heißt Gerhart Baums aktuelles Buch, in dem er für einen Paradigmenwechsel seiner FDP plädiert (Archivbild)Bild: Reuters/H. Hannschke

Es bestehe durchaus die Chance, im Wahljahr verlorenen gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen, glaubt der frühere deutsche Innenminister. Zugleich aber mahnt er seine Partei, ihr Gesellschaftsbild zu revidieren. "Unser modernes Staatsverständnis ist von der Einsicht geprägt, dass der Staat auch eine schützende und eine gestaltende Funktion hat", schreibt Baum auch unter dem Eindruck der Corona-Pandemie. Diese Einschätzung dürfte sich zumindest teilweise mit der eines Konstantin Kuhle oder einer Ria Schröder decken.

Der Alt-Liberale Baum hofft auf einen Paradigmenwechsel

Baum könnte mit seinen 88 Jahren ihr Großvater sein. Er möchte jedoch nicht in den Fehler verfallen, "nostalgisch auf die guten, alten Zeiten zu verweisen". Ein paar Ratschläge an die jüngere Generation, zu der auch Parteichef Lindner mit seinen 42 Jahren zählt, kann sich der Alt-Liberale aber nicht verkneifen. Es sei immer noch der Vorsitzende, der oft mit "eigenwilligen Akzenten" und seinem persönlichen Stil das Bild der FDP präge. "Pluralität ist gefragt." Das findet auch Ria Schröder, die offen für eine Trennung von Partei- und Fraktionsvorsitz plädiert. Und auch für die Zeit nach der Bundestagswahl hat sie klare Vorstellungen: "Ich hoffe, dass die FDP Teil einer mutigen, zukunftsgewandten Regierung sein wird."   

 

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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