1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
HandelLibyen

Libyen: Kleines Wirtschaftswunder im politischen Krisenland?

Cathrin Schaer | Islam Alatrash Libyen
28. Mai 2023

Neue Straßen und Parks, umfassender Wiederaufbau: Es strömt wieder Geld ins Krisenland Libyen. Doch kann dieser Aufschwung von Dauer sein und was hat die breite Bevölkerung davon?

Libyen | Tripoli
Libyen erlebt einen kleinen wirtschaftlichen AufschwungBild: MAHMUD TURKIA/AFP

"Nach einer schwierigen und turbulenten Zeit gibt es Hoffnung", freut sich Mustafa Abu Braidaa, ein Ladenbesitzer in Tripolis in Libyen. "Natürlich sind da immer noch viele Herausforderungen", sagt der 32-Jährige. "Die Inflation, die Währung ist abgewertet und die Kosten sind gestiegen. Und ja, es dauert lange, bis die Dinge besser werden. Aber es gibt positive Veränderungen, und ich denke, all das trägt zu einer Verbesserung für Menschen wie mich bei."

Auch Khadija Al-Buri, eine 26-jährige Krankenschwester aus Tripolis, ist bei allen Sorgen vorsichtig optimistisch. "Ich bin besorgt, dass die Kämpfe wieder aufflammen könnten. Es herrscht viel Unsicherheit und Unklarheit, aber ich habe Hoffnung auf Besserung", sagt sie. "Ich glaube, was wir jetzt sehen, stimmt die Menschen erst einmal positiv."

Geteilte Nation mit zwei Machtzentren

Libyen ist seit 2014 in zwei Teile gespalten, wobei sich im Osten und im Westen des Landes jeweils eine Regierung gegenüberstehen. Die von den Vereinten Nationen unterstützte Regierung der Nationalen Einheit hat ihren Sitz in Tripolis - im Westen des Landes. Die Konkurrenz, oft als das Parlament oder Repräsentantenhaus bezeichnet, sitzt in Tobruk, im Osten des Landes. Beide werden von einer Reihe lokaler Milizen und ausländischen Mächten unterstützt, und beide haben immer wieder versucht, sich gegenseitig die Kontrolle zu entreißen.

Neue Bauvorhaben gibt es in mehreren libyschen Städten - wie hier in der Hauptstadt TripolisBild: MAHMUD TURKIA/AFP

Nach mehreren Jahren der Kämpfe und der Instabilität hat die größte Gewalt jedoch - zumindest vorerst - ein weitgehendes Ende gefunden, wenngleich der Machtkampf nicht vorbei und der Kernkonflikt weiter ungelöst ist. In jüngster Zeit gilt die Aufmerksamkeit dennoch den wirtschaftlichen Aussichten des Landes.

Libyen verfügt über die größten Ölvorkommen auf dem afrikanischen Kontinent. Das Land hat im vergangenen Jahr durch die im Krieg gegen die Ukraine verursachten Engpässe 20,4 Milliarden Euro an Öleinnahmen erzielt. Nach Angaben der Organisation erdölexportierender Länder stiegen die Ölpreise von durchschnittlich 38 Euro pro Barrel im Jahr 2020 auf knapp über 93 Euro pro Barrel im vergangenen Jahr.

Nach Angaben der Weltbank hat Libyens Staatshaushalt im Jahr 2022 schwarze Zahlen schreiben können. Und für 2023 sieht der Internationale Währungsfonds (IWF) die "Spitze des Wachstums arabischer Länder" mit 17,9 Prozent in Libyen, wie es im monatlichen Bericht der Konrad-Adenauer-Stiftung heißt. Dabei muss berücksichtigt werden, von welch niedrigen Zahlen das Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Libyen ausgeht. Dennoch sind die Steigerungen beachtlich.

Doch wirken sich diese guten Wirtschaftsnachrichten auch auf das Leben der Libyer aus?

Besseres Leben für Stadtbewohner

In Orten wie Tripolis und Benghazi gebe es viele neue und bemerkenswert auffällige Bauwerke, auch die Infrastruktur werde sichtbar ausgebaut, bestätigt auch Claudia Gazzini, leitende Libyen-Analystin bei der Denkfabrik International Crisis Group. "Es gibt Parks und Straßen, die es vorher nicht gab, und es gibt erstaunliche Einkaufszentren", sagt die Expertin, die erst kürzlich in Libyen war.

Im Januar unterzeichnete Italien ein acht Milliarden Dollar schweres Gasförderungsabkommen mit LibyenBild: Hazem Turkia/AA/picture alliance

"Im Großen und Ganzen ist das für viele normale Libyer erfreulich. Wenn sie in Tripolis sind, werden sie von den Einwohnern hören, wie viel besser das alltägliche Leben sei als noch vor zwei Jahren. Es besteht also kein Zweifel daran, dass die Bewohner der Großstädte in gewisser Weise von dem jüngsten wirtschaftlichen Aufschwung profitieren."

Allerdings komme ein Großteil des derzeitigen Wirtschaftswachstums vor allem der Elite des Landes zugute, da deren Angehörige die Bauaufträge und das Geld verteilen, erklärt Gazzini. "Die Aussichten auf einen größeren wirtschaftlichen Aufschwung, von dem die normalen Libyer profitieren könnten, sind noch weit entfernt." In Tripolis, Benghazi und teilweise auch in Misrata sehe man glitzernde Bauwerke. "Aber was ist mit den Libyern in kleineren Städten, in den Bergen und in der Wüste?"

Dennoch: "Unterm Strich hätte sich Libyen keine besseren Bedingungen wünschen können als die von 2022 oder - zumindest bisher - die von 2023", sagt der Politikwissenschaftler Jalel Harchaoui, ein Associate Fellow des britischen Think Tanks Royal United Services Institute. Das Öl fließt und die Einkünfte bieten dem Land derzeit ein gutes Einkommen. Zudem ist die Bevölkerung mit etwa sieben Millionen Menschen vergleichsweise klein.

Eliten bleiben klar im Vorteil

Für viele Libyer sei die Situation dennoch nicht zufriedenstellend, sagt Harchaoui der DW. Wie in vielen anderen Ländern, die von Öleinnahmen abhängig sind, sind auch in Libyen fast drei Viertel der Arbeitskräfte bei der Regierung beschäftigt. Doch die Bevölkerung wächst zu schnell, als dass die Regierung alle Menschen beschäftigen könnte. Die Jugendarbeitslosigkeit bleibt hoch und lag 2022 bei etwa 51 Prozent.

Im vergangenen Jahr kauften europäischen Länder fast drei Viertel der libyschen ÖlexporteBild: AFP via Getty Images

"Damit kommen die Einnahmen des Staates nicht wirklich der gesamten Bevölkerung zugute", erklärt der Libyen-Experte und verweist auch auf mangelnde Transparenz bei Infrastrukturprojekten.

"So wurden zum Beispiel ägyptische Unternehmen eingeladen, eine Umgehungsstraße in der Nähe von Tripolis zu bauen", erzählt er - und gibt eine sehr kritische Einschätzung dazu ab: Die Straße sei "sehr teuer und nicht besonders nützlich. Es wurde alles getan, um Ägypten politisch zu gefallen."

Besorgniserregend sei für ihn auch der Wiederaufbau in der Innenstadt von Benghazi, wo Familien, die in ihren beschädigten Häusern bleiben wollten, auf beunruhigende Weise vertrieben worden seien, um Platz für neue Gebäude zu schaffen. "Der Wiederaufbau erfolgt also im Interesse der Eliten", so Harchaoui, "und nicht nach den Bedürfnissen der Bevölkerung."

Täuschung und Handel

Trotz alledem könnte die wirtschaftliche Erholung eine Chance für Libyen sein, sind sich Experten einig. Im Juli 2022 stimmte die Regierung in Tripolis der Ernennung von Farhat Bengadra zu, einem ehemaligen Leiter der libyschen Zentralbank. Seine Aufgabe besteht darin, Libyens wichtige Ölgesellschaft, die National Oil Corporation, zu leiten.

Bengadra ist ein Anhänger von General Khalifa Hafter, der die Regierung in Tobruk im Osten des Landes kontrolliert. Beobachter vermuten, er habe seinen neuen Posten aufgrund einer privaten Vereinbarung zwischen den beiden gegnerischen Regierungen erhalten, von der offenbar beide Seiten profitieren.

"Seitdem diese informelle Vereinbarung im Juli letzten Jahres getroffen wurde, haben wir viele Machenschaften zwischen den beiden Lagern gesehen", so Libyen-Expertin Claudia Gazzini. "Beide Lager erhalten auf zwielichtige Weise sehr lukrative Gelder - alles ist informell und betrifft eher Einzelpersonen als Institutionen. Aber diese Beziehung erhält zugleich auch den Frieden vor Ort", betont sie. "Die beteiligten Akteure haben ein größeres Interesse daran, diese Vereinbarungen zu ermöglichen, als gegeneinander Krieg zu führen."

Können Wahlen helfen?

Seit einiger Zeit wird in Libyen der Ruf nach allgemeinen Wahlen laut, in der Hoffnung, das Land wieder unter einer demokratischen Regierung zu vereinen. Nach den Plänen der Vereinten Nationen soll noch in diesem Jahr ein weiterer Versuch einer landesweiten Abstimmung unternommen werden.

"Aber Wahlen sind im Wesentlichen ein Auslöser für Veränderungen", stellt Gazzini fest. "Und diese Geschäfte zwischen ehemaligen Feinden sind für beide Seiten sehr profitabel." Gewinnbeteiligung und Wirtschaftswachstum stünden deshalb "eindeutig im Widerspruch zu der von den UN unterstützten Roadmap".

In Tobruk hat der ehemalige libysche Kriegsherr Khalifa Hafter (auf dem Plakat) die Kontrolle Bild: ABDULLAH DOMA/AFP

Gazzini ist der Meinung, eine Formalisierung bisher informeller "Machenschaften" könne dazu beitragen, libysche Politiker für eine Wahl zu gewinnen. Experte Harchaoui wiederum befürchtet, die derzeitige Situation, auch wenn sie Hoffnung mache, verfestige die Korruption und den Mangel an Transparenz unter den politischen Eliten Libyens nur noch.

Klar ist aus Sicht der Experten: Trotz neuer Einkaufszentren und Straßen bleibt die politische Instabilität und Unsicherheit der vorherrschende Faktor in Libyen, sei es aufgrund von Ölpreisschwankungen oder interner Kämpfe libyscher Milizen.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.