1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Libyen: Marodes Gesundheitssystem treibt Familie zur Flucht

Islam Alatrash Libyen
10. Juli 2025

Um ihr schwerkrankes Kind zu retten, wagt die Familie die gefährliche irreguläre Überfahrt per Boot von Libyen nach Italien. Die Geschichte des siebenjährigen Mädchens spiegelt die Krise des libyschen Gesundheitssystems.

Sohan Aboulsoud während der gefährlichen Passage über das Mittelmeer
Sohan Aboulsoud während der gefährlichen Passage über das MittelmeerBild: khawla nail

Libyens schwerwiegende Defizite im Gesundheitswesen haben ein neues, trauriges Gesicht. Es ist das Gesicht eines Kindes. Die sieben Jahre alte Sohan Aboulsoud leidet an Mukoviszidose, einer genetisch bedingten Erbkrankheit. In Libyen fand ihre Familie keine Behandlungsmöglichkeit. So wagte sie am Ende Juni die für viele irreguläre Migranten oft tödlich endende Bootsfahrt Richtung Italien. Die Familie hatte Glück: Ihr Boot kenterte nicht.

Kaum hatte Sohans Mutter, Khawla Nail, das Foto ihrer erschöpften Tochter auf einem Schmugglerboot online geteilt, verbreitete es sich in den sozialen Medien. Viele Nutzerinnen und Nutzer klickten das Bild an und lasen von Sohans Leid.

Einen Tag später protestierten in der libyschen Hauptstadt Tripolis Dutzende Familien, deren Kinder ebenfalls an Mukoviszidose leiden. Sie forderten Zugang zu Medikamenten und die Einrichtung von Diagnosezentren in Libyen. Der Mangel an solchen Leistungen sei lebensbedrohlich, erklärten sie.

Seit dem Sturz des libyschen Diktators Muammar Gaddafi im Jahr 2011 steckt Libyen in einer lähmenden politischen Dauerkrise. Das Land ist seit 2014 zweigeteilt, mit jeweils einer Regierung im Osten und Westen. Die von den Vereinten Nationen unterstützte Regierung, die Regierung der Nationalen Einheit (GNU), hat ihren Sitz in Tripolis im Westen - der Heimat von Sohans Familie. Ihre Gegenspielerin hat ihren Sitz in der Stadt Tobruk im Osten des Landes. In den vergangenen Jahren haben beide Regierungen wiederholt versucht, einander gewaltsam die Kontrolle zu entreißen. Alle Versuche sind gescheitert.

Der jahrelang Bürgerkrieg hat Libyen an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Bild: Yousef Murad/AP/dpa/picture alliance

Die daraus resultierende Instabilität wirkt sich seit Langem auch auf das Gesundheitssystem des Landes aus. Es werden keine Krankenhäuser mehr gebaut, eine Reihe von Medikamenten ist knapp geworden oder nicht verfügbar. Rund ein Drittel aller Einrichtungen sei "nicht funktionsfähig, viele weitere nur "teilweise funktionsfähig", hieß es bereits Ende 2021 in einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) über die medizinische Infrastruktur in den südlichen und östlichen Regionen Libyens. 

Libysche Familien verzweifelt

Seit sieben Jahren bezahlt Sohans Familie deshalb private Laboruntersuchungen im benachbarten Tunesien und bestellt Medikamente über private Apotheken. Ohne diese Medikamente hätte Sohan nicht überlebt.

"Ich habe ihre Akte mehr als einmal bei den libyschen Gesundheitsbehörden eingereicht, aber die Antwort war immer: Es gibt kein Budget", sagt Sohans Mutter im DW-Gespräch. "Alles war teuer, kompliziert und unerschwinglich. Ich musste zusehen, wie sich der Zustand meiner Tochter vor meinen Augen verschlechterte. In Libyen hatten wir alle Möglichkeiten ausgeschöpft."

Der DW vorliegenden Dokumenten zufolge haben mehr als 60 libysche Familien beim staatlichen Gesundheitsministerium offiziell Anträge auf Behandlung von Mukoviszidose gestellt. Die lebensbedrohliche Krankheit beeinträchtigt die Lunge, das Verdauungssystem und andere Organe. Die Dokumente enthalten Namen und Personalausweisnummern.

Erste Hilfe: Migranten werden 2023 nach der Ankunft auf Lampedusa von Sanitätern versorgt Bild: ZUMA Press/picture alliance/dpa

Sohans Familie sei keineswegs die erste gewesen, die sich auf die gefährliche Reise nach Europa begeben habe, um dort medizinische Versorgung zu erhalten, sagt Mahmoud Abu Dabbous, Leiter der Nationalen Organisation zur Unterstützung von Organspenden in Libyen. "Die Bootsfahrt nach Europa ist ein ernstes Zeichen dafür, dass Libyen grundlegende Gesundheitsbedürfnisse nicht zu erfüllen vermag", so Abu Dabbous.

"Krankheiten warten nicht"

Sohan bewältigte die irreguläre und gefährliche Reise nach Europa gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und anderen libyschen Familien in einem überfüllten Boot. "Wir sind nicht gegangen, weil wir migrieren wollten, sondern weil Krankheiten nicht warten", sagt Sohans Mutter.

Viele andere Überfahrten irregulärer Migranten aus Libyen oder Tunesien über das Mittelmeer nach Europa enden tödlich. Laut dem Projekt "Missing Migrants" der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind seit 2014 mehr als 63.000 Menschen bei den riskanten Bootsfahrten gestorben oder werden seitdem vermisst. Die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher sein, zuverlässige Daten sind oftmals nicht verfügbar.

Über 63.000 Menschen ertranken oder verschwanden seit 2014 bei Versuchen, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überquerenBild: Leon Salner/RESQSHIP e.V./dpa/picture alliance

Bedenken gegen Nachahmung 

Nach ihrer Ankunft auf der italienischen Insel Lampedusa, rund 420 Kilometer von der libyschen Westküste entfernt, sei die Familie in einer Notunterkunft ohne Klimaanlage untergebracht worden, erzählt die Mutter. "Sohans Krankheit verträgt weder Hitze noch Dehydration. Schon ein geringer Flüssigkeitsverlust könnte sie auf die Intensivstation bringen."

Zu diesem Zeitpunkt waren Sohans Bilder bereits in den sozialen Medien viral gegangen. Das veranlasste die international anerkannte Regierung (GNU) dazu, eine Nachricht zu senden, in der sie der Familie zusagte, die Kosten für die Behandlung des Mädchens in Italien zu übernehmen.

"Aber sie haben uns nur einmal kontaktiert, dann endeten alle Kommunikation. Seitdem hat sich niemand mehr gemeldet, es kam zu keinerlei konkreten Schritten", so Sohans Mutter zur DW.

Versuche der DW, das libysche Gesundheitsministerium zur Klärung zu kontaktieren, blieben ohne Ergebnis - bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung lag keine Antwort vor.

Für Tarik Lamloum, Leiter der libyschen Menschenrechtsorganisation "Beladi", ist das nicht überraschend. Seiner Erfahrung nach beschränkt sich solche angebliche Unterstützung oft auf Worte, denen keine Taten folgen. Die Reaktion der GNU gründe nicht "auf einem anhaltenden Verantwortungsbewusstsein", meint er im Gespräch mit der DW. Vielmehr sei sie dem Aufruhr in den sozialen Medien geschuldet, so seine Vermutung.

Sohans Geschichte könnte andere Familien in ähnlicher Lage unter Handlungsdruck setzen, fürchtet Lamloum. "Eine Familie hat mich bereits kontaktiert, nachdem die Geschichte viral ging, und nach den Einzelheiten der Reise gefragt. Sie wollte wissen, ob sie diese Reise ebenfalls antreten sollte", sagte er der DW. Seine Überzeugung sei jedoch: Der libysche Staat müsse in solchen Fällen im Land selbst für angemessene Hilfe sorgen.

Mitarbeit: Jennifer Holleis.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Italien: Lebensgfährliche Flucht

03:50

This browser does not support the video element.