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PolitikLibyen

Libyen: Sorge vor einer Rückkehr des Bürgerkriegs

Cathrin Schaer
20. August 2024

Angesichts einer neuerlichen Mobilisierung von Milizen befürchten Experten ein erneutes Aufflammen der Gewalt. Welche Rolle spielen auswärtige Akteure?

Der Regierung im Osten verbundene Truppen bewegen sich Richtung Westen, 2022
Libyen bleibt geprägt von Gewalt und Machtkämpfen. Hier eine Aufnahme von 2022, als Milizen aus dem Osten des Landes auf die Hauptstadt Tripolis zumarschierten und mit deren Eroberung drohten Bild: Yousef Murad/AP Photo/picture alliance

Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (UNSMIL) schlug unlängst Alarm. Man beobachte mit Sorge die  Mobilisierung von Streitkräften in verschiedenen Teilen Libyens, hieß es kürzlich in einer Erklärung. Man fordere alle Parteien auf, größtmögliche Zurückhaltung zu üben und jegliche provokative militärische Aktion zu vermeiden, die als Angriff empfunden werden könnte.

Auch die Delegation der EU in Libyen zeigte sich besorgt. "Die Anwendung von Gewalt würde der Stabilität in Libyen schaden und zu menschlichem Leid führen. Sie sollte um jeden Preis vermieden werden", hieß es in einer Mitteilung. 

Die vorübergehende Entführung eines höheren Angestellten der Zentralbank durch Milizionäre in den vergangenen Tagen fachte die Spannungen zusätzlich noch einmal an.   

Zwei rivalisierende Machtzentren

Libyen ist seit 2014 in zwei Teile gespalten, wobei sich im Osten und Westen des Landes rivalisierende Machtzentren gegenüberstehen. Die von den UN anerkannte Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Unity, GNU) hat ihren Sitz in Tripolis im Westen des Landes, die rivalisierende Regierung hingegen in der in Ost-Libyen gelegenen Stadt Tobruk. In den letzten zehn Jahren haben beide Regierungen immer wieder erfolglos versucht, der jeweils anderen die Kontrolle zu entreißen.

Die Regierung im Osten Libyens wird von dem ehemaligen General und autoritären Politiker Chalifa Haftar unterstützt, der mehrere bewaffnete Gruppen kontrolliert. Vor mehr als einer Woche bewegten sich Haftars Streitkräfte offenbar auf Tripolis zu. Haftar hatte die Stadt bereits 2019 angegriffen, musste aber ein Jahr später einen Waffenstillstand unterzeichnen.

Abdul Hamid Dbeibah, Premier der von den UN anerkannten Regierung im Westen LibyensBild: Yousef Murad/AP Photo/picture alliance

Versuchte Machtausweitung?

Haftar erklärte zu dem Vorstoß, Truppen unter dem Kommando seines Sohnes Saddam seien unterwegs, um die libyschen Grenzen zu sichern und den Drogen- und Menschenhandel sowie den Terrorismus zu bekämpfen. Militäranalysten vermuteten jedoch, der Milizenführer habe andere Pläne.

Haftars Streitkräfte strebten schon seit geraumer Zeit die Kontrolle über den Flughafen Ghadames und dessen Umgebung an, erklärte etwa Jalel Harchaoui, Nordafrika-Experte beim britischen Think Tank Royal United Services Institute, gegenüber Le Monde. Die Kontrolle über Ghadames "würde seine territoriale Stellung gegenüber Algerien, Tunesien und Niger erheblich stärken", so Harchaoui. Zugleich würde der rivalisierenden Einheitsregierung (GNU) in Tripolis damit der Zugang zum Flughafen versperrt.

Sollten Haftars Truppen Ghadames einnehmen, würde dies "offiziell den Zusammenbruch des Waffenstillstands von 2020 markieren", schrieb Tarek Megerisi, Libyen-Experte beim European Council on Foreign Relations, auf der Plattform X.

Als Reaktion auf die Truppenbewegungen wurde eine Reihe anderer Milizen, die die Regierung in Tripolis unterstützen, von dieser aufgefordert, ihre Kampfbereitschaft zu erhöhen.

Hinterließ ein politisch desolates Land: der 2011 gestürzte Diktator Muammar al-GaddafiBild: Abdel Magid Al Fergany/AP Photo/picture alliance

"Nullsummen-Mentalität"

Haftars jüngste Manöver seien eine Art fortgesetzter Hochrisikopolitik, sagt der auf Libyen spezialisierte Politologe Emadeddin Badi vom Think Tank Atlantic Council. "Viele der Akteure in Libyen lassen sich auf dieses Spiel ein. Sie wollen sehen, wie weit sie gehen können, um ihre Gegner herabzusetzen, ins Abseits zu drängen oder ihre Macht zu untergraben." In Libyen herrsche weiter eine "Nullsummen-Mentalität", so der Experte. Beide Fraktionen gingen davon aus, dass zuletzt nur eine von ihnen das Land regieren könne - und müsse. Diese Idee verdränge jeden Gedanken an ein gemeinsames Engagement für die nationale Einheit.

Anders sieht es Hafed al-Ghwell, Nordafrika-Experte an der Johns-Hopkins-University in Washington: "In Libyen häufen sich die Anzeichen, dass sich die rivalisierenden Regierungen zu etwas Großem zusammenfinden", schrieb Hafed al-Ghwell vor einigen Tagen in einem Kommentar für die Website Euronews. Etwas Positives meinte er damit allerdings nicht. Angesichts der verschiedenen Milizen laufe Libyen vielmehr Gefahr, ein Mafia-Staat zu werden, so al-Ghwell.

Spuren von Gewalt nach Kämpfen zwischen Milizen: Szene aus Tripolis, 2022Bild: AA/picture alliance

Mäßigung dank ausländischer Akteure?

In Libyen sind auch eine Reihe ausländischer Akteure präsent. So unterstützt die Türkei die Regierung im Westen, während Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Russland an der Seite der östlichen Regierung stehen. In der Vergangenheit hatten unter anderem die Vereinten Nationen  die ausländischen Akteure gebeten, das Land zu verlassen.

Doch der Blick darauf hat sich verändert, sagen Experten: "Es ist nicht ohne Ironie, dass derzeit gerade der ausländische Einfluss den Rückfall in einen Krieg verhindert", so Experte Emadeddin Badi vom Atlantic Coucil gegenüber der DW:  "Zwischen Türken, Russen und anderen besteht ein Gleichgewicht der Kräfte. Alle Seiten scheinen einig, dass es nicht wieder zu einem ausgewachsenen Konflikt kommen soll."

Doch alle Versuche, die beiden Hälften des Landes zu vereinen, etwa durch nationale Wahlen oder eine Vereinheitlichung von Sicherheitskräften oder Verwaltungsstrukturen, sind bisher gescheitert. Die internationale Gemeinschaft ist inzwischen daran gewöhnt, in Fragen der Ölversorgung oder der Migration mit zwei unterschiedlichen Regierungen zu sprechen. 

Experte: "Trugbild" zerfällt

Doch die Analysten sind sich einig: Der Status quo in Libyen wird auf Dauer nicht tragbar sein - und vor allem immer wieder zu handfesten Konflikten führen. Emadeddin Badi: "Libyen wurde von der internationalen Gemeinschaft seit 2021 weitgehend vernachlässigt. Viele gaben sich der Illusion hin, Libyen könne auf lange Sicht stabil bleiben, sei es auf Grundlage des Status quo, sei es durch erleichterte Abkommen zwischen beiden Konfliktparteien." Doch diese Politik basiere auf einem "Trugbild", so Badi. Das Land sei keinesfalls stabil - und die Rivalität der Machtzentren könne jederzeit eskalieren.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

 

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