Libyens Kampf um den inneren Frieden
20. Juni 2012Eine Zeit lang ging nichts mehr auf dem Flughafen von Tripolis. Kein einziger Flieger konnte landen, keiner starten. Militärflugzeuge blockierten das Rollfeld, die Passagiere in den Wartehallen sahen sich bewaffneten Milizen gegenüber. Ein paar Stunden stand der Flugverkehr still. Schließlich rückten Truppen der Übergangsregierung an, die die Lage schrittweise wieder in den Griff bekamen. Einige der Kämpfer konnten fliehen, andere ergaben sich.
Die Besetzung des Flughafens in der libyschen Hauptstadt Tripolis Anfang Juni dieses Jahres warf ein grelles Licht auf die Schwierigkeiten, mit denen die libysche Übergangsregierung zu kämpfen hat. Mitglieder der Al-Aufja-Brigade, die während der Revolution auf Gaddafis Seite gekämpft hatte, forderten durch die Flughafen-Aktion Auskunft über das Schicksal ihres Kommandanten. Er war kurz zuvor entführt worden. Die Regierung versprach, sich um Aufklärung zu bemühen.
Sprache der Gewalt
Milizen wie die der Al-Aufja-Brigade sind in vielen Regionen des Landes aktiv. In Bengasi verübten islamistische Kämpfer Anfang Juni einen Anschlag auf das dortige US-Konsulat. Kurze Zeit später demonstrierten religiöse Radikale in einem langen Umzug ihre Macht. Wieder ein paar Tage später wurde in derselben Stadt der Konvoi des britischen Botschafters angegriffen. Zwei seiner Sicherheitskräfte wurden verletzt.
Die Milizen in Libyen stellen für die Übergangsregierung eine erhebliche Herausforderung dar, erklärt der Politikwissenschaftler und Publizist Mustafa Fetouri im Gespräch mit der Deutschen Welle. Sie würden die Schwäche der Regierung nutzen, um möglichst hohe Vergünstigungen von ihr abzupressen. Dabei beriefen sie sich auf ihre aktive Rolle während der Revolutionszeit, als die meisten dieser Gruppen gegen das Gaddafi-Regime kämpften. Daraus, sagt Fetouri, würden sie nun das Recht ableiten, das Land zu regieren."
Blühender Waffenhandel
Libyen kämpft derzeit mit den Folgen des Krieges. Der Waffenhandel blüht, und viele ehemalige Kämpfer weigern sich, ihre Waffen abzugeben. Zugleich ist die Regierung noch weit davon entfernt, das große Land zu kontrollieren. Darum, erklärt Fetouri, könnten die Milizen ihre Forderungen durchaus erfolgreich durchsetzen. Dazu gehörten auch Immunitätsgarantien für alle Handlungen während der Revolutionszeit.
Allerdings sollte man mit dem Begriff "Milizen" vorsichtig umgehen, warnt der Politikwissenschaftler Ali Algibbeshi, der derzeit in Deutschland promoviert – und zugleich für das libysche Parlament kandidiert. Er macht für die Existenz der bewaffneten Revolutionäre vor allem die ungewisse Sicherheitslage in Libyen verantwortlich. Die Regierung, erklärt er, habe die Milizen aufgefordert, sich der libyschen Nationalarmee anzuschließen. Deren Aufbau verzögere sich aber, der Aufbau einer neuen Heeresstruktur nehme mehr Zeit in Anspruch als ursprünglich angenommen. "In dieser Situation haben die Revolutionäre noch einmal die Waffen in die Hand genommen, um gegen verbleibende Gaddafi-Anhänger zu kämpfen. Das hat ihnen natürlich Selbstbewusstsein verschafft, aber auch eine gewisse Legitimation."
Furcht vor neuem Islamismus
Die Schwäche der Regierung, befürchtet Mustafa Fetouri, könnte der Nährboden für islamistische Kräfte werden. Einige der Milizionäre hätten lange Zeit – teils bis zu 20 Jahre – in Gaddafis Gefängnissen verbracht, und das ohne jegliches Gerichtsverfahren. Dafür erhielten sie von der Übergangsregierung teils erhebliche Entschädigungen. Daraus ergebe sich nun ein neues Problem: "Aus vertraulichen Quellen weiß ich, dass es innerhalb der islamistischen Gruppierungen Absprachen gibt: Demnach sollen die ehemaligen Gefangenen 40 Prozent der Entschädigungssummen erhalten, während die restlichen 60 Prozent an die Gruppen selbst gehen. Das wird sie zu den reichsten politischen Gruppierungen in Libyen machen."
Nicht minder problematisch seien auch die teils üppigen Summen, die die Übergangsregierung den Milizen als Anerkennung für ihren Einsatz während der Revolution gezahlt hatte. Diese Gelder seien vorschnellt geflossen, befürchtet Ali Algibbeshi. "Niemand weiß etwas über den Verbleib dieses Geldes. Das war sicher ein Fehler. Es sollte darum so sein, dass die Regierung die Revolutionäre bezahlt, sobald sie sich der Armee angeschlossen haben – nicht aber für andere Handlungen."
Ringen um Stabilität
Wie ließen sich die Milizen aber wieder in die staatlichen Strukturen einbauen? Zunächst einmal, erklärt Algibbeshi, käme es darauf an, zwischen der Übergangsregierung und den Milizen das Vertrauen wiederherzustellen. Erste Schritte in dieser Richtung würden bereits getan, auch auf Seiten der Milizen. "In Libyen wurde zuletzt auch ein Rat der Revolutionäre begründet. Er repräsentiert die Revolutionäre in ganz Libyen. Er böte sich zur Zusammenarbeit mit der Regierung an. Auf diese Weise könnten die Milizen in die Armee integriert werden. Das sollte möglichst schnell geschehen."
Ihren Diktator haben die Libyer loswerden können. Jetzt stehen sie vor der womöglich kaum minder großen Aufgabe, den Staat zu stabilisieren und dessen Gewaltmonopol wiederherzustellen. Angesichts der zahllosen Waffen, die im Land kursieren, könnte diese Aufgabe noch viel Zeit in Anspruch nehmen.