Khorchide: Liebe statt Scharia - den Koran neu Lesen
22. Oktober 2012"Und wenn ihr annehmt, dass Eure Frauen einen Vertrauensbruch begehen, besprecht Euch mit ihnen und zieht Euch aus dem Intimbereich zurück [meidet Intimitäten] und schlagt sie.“ Koranzitate wie dieses sind für den islamischen Theologen Mouhanad Khorchide ein gutes Beispiel dafür, den historischen Kontext der Offenbarung unbedingt zu beachten. Damals seien Frauen bei geringstem Verdacht ermordet oder verprügelt worden. Die Botschaft Gottes in diesem Vers an die damaligen Menschen sei als eine Abwertung von Gewalt gegen Frauen zu verstehen. Gewaltlose Mittel hätten Vorrang, so Khorchide. Eine wortwörtliche Interpretation hingegen, wie sie etwa bei Salafisten üblich sei, würde die Gewalt gegen Frauen legitimieren.
Körperstrafen nicht wortwörtlich auslegen
Mouhanad Khorchide bildet als Professor für Islamische Religionspädagogik am neuen "Zentrum für Islamische Theologie" (ZIT) der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster die ersten islamischen Religionspädagogen aus. Leidenschaftlich plädiert er dafür, bestimmte Koranverse zeitgemäß zu deuten.
Grundzüge einer modernen Religion? "Im Koran und in der Sunna gibt es sogenannte ahistorische, also überzeitliche Passagen", sagt Khorchide. Er hält diese Aussagen für zeitlos gültig. "Etwa, wenn sich Gott selbst im Koran als barmherzig bezeichnet", so Korchide. Einige Verse im Koran bezögen sich jedoch auf die Gesellschaftsordnung, im Sinne von juristischen Maßnahmen. Diese Verse seien so zu deuten, dass die Gepflogenheiten der damals lebenden Menschen beziehungsweise der heute lebenden Menschen mit berücksichtigt würden. "Wenn es zum Beispiel um Körperstrafen geht, die heute unserem Verständnis von Menschenrechten widersprechen, sollten wir das nicht wortwörtlich ins hier und jetzt übertragen". Zwischen den Zeilen zu lesen und nach der eigentlichen Aussage dahinter zu fragen, darauf komme es an. Dem 40-jährigen Theologen aus Münster ist es wichtig, den Koran mit seinen 6.236 Versen nicht auf ein juristisches Regelwerk zu reduzieren - zumal lediglich 80 Verse im juristischen Sinne gemeint seien.
Göttliche Liebe statt Rachegott
Mouhanad Khorchide überrascht mit seinen Thesen nicht nur dadurch, dass er mit den Salafisten hart ins Gericht geht: Diese reduzierten den Islam auf wenige Äußerlichkeiten. Ihr Gott interessiere sich offensichtlich nur dafür, ob der Bart lang genug sei und die Hose ja nicht bis über die Knöchel gehe.
Bemerkenswert ist Khorchides Gottesbild, das er in seinem neuesten Buch "Islam ist Barmherzigkeit" ausführlich beschreibt. Anstelle eines weit verbreiteten Gottesbildes von einem mächtigen, bestrafenden Befehlshaber, dem man blind gehorchen und sich unterwerfen müsse, beschreibt Khorchide einen koranischen Gott voller Barmherzigkeit und bedingungsloser Liebe zum Menschen. Es ist ein zur Verzeihung bereiter Gott. "Gott sucht Menschen, die er liebt und die ihn lieben. Seine Liebe kommt zuerst und unsere Liebe ist die Antwort auf die göttliche Liebe. Gott sucht Mitliebende", sagt Khorchide. Der Koran beschreibe eine von Gott angestrebte Gott-Mensch-Beziehung als Liebesbeziehung. Diese gestalte sich nicht über juristische Kategorien und schon gar nicht über Angst und Drohung. Der Islam dürfe nicht politisch missbraucht werden, betont Khorchide.
Appell an die Vernunft
Der Theologe plädiert für Freiheit und Vernunft statt für blinden Gehorsam. Gott wolle keine Marionetten, die einfach nur Befehle ausführten. "Gott ist kein Diktator, der erwartet, dass man ihm nur gehorcht", so Khorchide. Stattdessen solle der Mensch nachvollziehen und hinterfragen, warum er auf der Welt sei und was sein Auftrag sein könnte.
Bei einem Vortrag an der bedeutsamen Al-Azhar-Universität in Kairo letztes Jahr waren die Reaktionen auf seine Reformansätze bei den älteren Theologen eher verhalten. Der Nachwuchs hingegen zeigte sich interessiert.
Zuspruch bekommt der Professor auch von seinen eigenen Studenten in Münster. "Es gibt unzählige Verse im Koran, wo Allah dazu auffordert, dass Menschen ihren Verstand einsetzen sollen. Und die großen Gelehrten fragten als erstes, ob überhaupt etwas existiere", sagt etwa die 19-jährige Kübra Camur. Das zeige doch, dass der Islam offen sei für kritisches Hinterfragen.
Zweites Vatikanisches Konzil als Vorbild?
Reformen müssen Gläubige überzeugen und begeistern können. Christine Schirrmacher, Islamwissenschaftlerin und Leiterin des Instituts für Islamfragen der Deutschen Evangelischen Allianz, gibt zu bedenken, "dass die Reformation des Islam nicht von Europa ausgehen kann, sondern aus den Zentren der islamischen Gelehrsamkeit, aus Ägypten oder aus Saudi-Arabien, kommen müsste." Auch in diesen Gesellschaften lebe man nicht unter einer Glasglocke, sondern mitten in der globalisierten Welt. "Aber umso mehr brauchen wir natürlich auch einen reformierten Islam hier in Europa", so Schirrmacher. Das Zweite Vatikanische Konzil, das die Kirche mit der Moderne versöhnt hat, könne für Reformen im Islam nur bedingt Vorbild sein.
"Ich denke, es müssten in der islamischen Gemeinschaft eigene Begründungen aus der eigenen Theologie gefunden werden, um zu einer gleichberechtigten Sicht auf Nicht-Muslime, auf Frauen und auf Konvertiten zu gelangen", sagt die Professorin. Es gebe bereits eine Reihe von Reformvorschlägen von islamischen Theologen und Intellektuellen mit sehr unterschiedlichen Ansätzen. "Diese Entwürfe zu verfolgen, wäre ganz sicher ein lohnendes Unternehmen". Mouhanad Khorchides Ansätze einer moderneren Religion bereichern die gerade erst begonnene innerislamische Debatte um die Moderne.