Was liest die DW-Kulturredaktion?
22. April 2015 "Die letzten ihrer Art" von Douglas Adams und Mark Carwardine
München (Heyne Verlag) 1992, 272 Seiten
In Neuseeland gibt es einen molligen, tollpatschigen Papagei, der mit seinen winzigen Flügeln gerade mal flattern kann. Seine Nahrung ist allerdings hoch oben in den Baumkronen verborgen, wo er tapfer mit Schnabel und Krallen hinauf kraxelt. Tausende Kilometer entfernt, in Madagaskar, versteckt sich das "Aye-Aye" zwischen den Ästen: eine Lemurenart mit weit aufgerissenen Augen, die mit einem seltsam langen, dürren Finger nach Insekten in der Rinde bohrt. Was diese beiden Gestalten, der schaurige Lemur und der drollige Riesenpapagei, gemeinsam haben? Sie beide bekamen eines Tages Besuch. Von einem leidenschaftlichen Zoologen und einem hilflosen Reporter, Douglas Adams, der Autor dieses wundervollen Buches. Eigentlich ist Adams für seine Science-Fiction-Komödie "Per Anhalter durch die Galaxis" bekannt geworden. Zeit seines Lebens hat er aber betont, dass ihm an dem Buch "Die letzten ihrer Art" ganz besonders viel liegt. Zu Recht. Adams ist damals im Auftrag eines britischen Magazins mit dem Zoologen Mark Carwardine um die Welt gereist, um über Tiere zu berichten, die vom Aussterben bedroht sind. Mit viel Liebe und Humor schrieb Adams über die Geschöpfe, die er auf dieser Reise traf und die es vielleicht bald nicht mehr gibt: das Aye-Aye, den Kakapo, die Drachenechse von Komodo oder die Delphine des Jangtse - sie alle gibt es nur noch selten auf dieser Erde. Ein Grund für uns Menschen, etwas zu tun. Und ein Grund für jeden, dieses Buch zu lesen. Ananda Bräunig
"IQ84" von Haruki Murakami
Roman in drei Teilen, Köln (Dumont) Buch 1+2, 2010, 1020 Seiten; Buch 3, 2011, 578 Seiten
Ich bin kein Bücherfresser. So hat es ewig gedauert, bis ich die 1600 Seiten von Haruki Murakamis "IQ84" endlich in Angriff genommen habe. Drei Tage später blätterte ich schon die 370. Seite um. Wie, bitteschön, ist das möglich? Ich fange mit dem Seltsamen an: Am Himmel erscheinen zwei Monde – ein normaler, gelblicher und dazu ein etwas kleinerer grüner. Die Merkwürdigkeit ist ein erster Hinweis auf sich verschiebende Realitäten. Ich ahne, dass das Thema des japanischen Autors um diese Begriffe kreist: Wahrheit, Wirklichkeit, Subjektivität, Zeit.
Der Roman erzählt in unaufdringlicher, einfacher Sprache von zwei Hauptfiguren: Aomame und Tengo, beide ähnlich alt, leben völlig verschieden. Doch in einem entscheidenden Punkt gleichen sie sich: Sie sind Sinnsuchende. Je mehr Murakami über ihr Leben preisgibt, desto rätselhafter wirkt die Geschichte. Meine Neugierde ist geweckt. Ich tauche immer tiefer in den Roman ein und gerate zunehmend in seinen Bann. Murakami, ewiger Anwärter auf den Literaturnobelpreis, hat die Trilogie vor fünf Jahren vorgelegt. Seine Fangemeinde ist seither noch einmal sprunghaft gewachsen. Ich gehöre jetzt dazu. "IQ84" - vor diesem Buch kann man nur warnen: Ganz hoher Suchtfaktor! Stefan Dege
"Aufstieg und Fall großer Mächte" von Tom Rachman
Aus dem Englischen von Bernhard Robben, München (Deutscher Taschenbuch Verlag) 2014, 496 Seiten
Nach seinem Erstling "Die Unperfekten", in dem er Auslandsjournalisten auf die Schippe nahm, verspricht Tom Rachman in seinem zweiten Roman "Aufstieg und Fall großer Mächte" "eine Entführung, hitzige politische Debatten (…) und Reisen um die Welt". Als ich das Buch kürzlich zur Hand nahm, erwartete ich den allerneuesten Tratsch zur Außenpolitik – generelles Thema: der ewig währende Verfall der US-Hegemonie. So war ich zunächst enttäuscht, als ich herausfand, dass Rachmans große Mächte gar nicht so politisch sind.
In dem Buch geht es um drei Lebensabschnitte eines Mädchens namens Tooly: 1988 als exzentrische Zehnjährige in Bangkok, als junge Frau in New York, und in ihren Dreißigern als Inhaberin eines Buchladens, die plötzlich anfängt, jene seltsamen Gestalten zu hinterfragen, die sie am meisten beeinflusst haben. Irgendwie blieb ich bei Tooly und ihren sonderbaren Gefährten hängen. Ihr Charme hat mich gefesselt. Als ich mich wieder einmal über den Titel wunderte, wurde mir klar, dass die Menschen, die uns lieben, und die, die uns enttäuschen, unsere Identität stärker formen als politische Supermächte. Elizabeth Grenier
"Es liegt in der Familie" von Michael Ondaatje
Aus dem Englischen von Peter Torberg, München (Deutscher Taschenbuch Verlag) 1997, 224 Seiten
Aus "Running in The Family", wie der Roman im Original betitelt ist, quillt das pralle Leben. Selten habe ich eine autobiographische Familiengeschichte gelesen, die einerseits mit so viel Poesie und Liebe für jede einzelne Figur aufwartet, und andererseits voller Selbstironie und Augenzwinkern steckt. Um es mit den Worten des Autors zu sagen: "A well-told lie is worth a thousand facts" – lieber gut fabuliert als schlecht berichtet. Philipp Jedicke
"Untertauchen" von Lydia Tschukowskaja
Zürich (Dörlemann Verlag) 2015, 256 Seiten
Manchmal sind es die lange vergessenen Bücher, die, von Verlagen ausgegraben, zur eindringlichsten Lektüre werden. Die auch vieles verblassen lassen, was sonst auf den Büchertischen des Frühjahrs angeboten wird. "Untertauchen" von Lydia Tschukowskaja ist so ein Buch. Zu Papier gebracht wurde es von der Autorin irgendwann in den 1950er Jahren. In der Sowjetunion konnte es nicht erscheinen. Erst 1972 brachte es ein amerikanischer Verlag heraus, was auch zur Folge hatte, dass Tschukowskaja aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Drei Jahre später erschien es in Deutschland, danach war es lange vergriffen. Jetzt hat es der Schweizer Dörlemann-Verlag neu aufgelegt.
In "Untertauchen" begegnet der Leser Nina Sergejewna, die im Frühjahr 1949 in einem abgelegenen Sanatorium im Norden der sowjetischen Hauptstadt zur Ruhe kommen will. Nina will "untertauchen", vergessen und sich erinnern zugleich. Ihr Mann war 1937 auf dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors verschleppt worden, seither hat sie nichts mehr von ihm gehört. Sie selbst ist den Häschern des Diktators knapp entkommen. In der Einsamkeit des Sanatoriums erinnert sie sich. Es ist ein stilles Buch über das Leid der Menschen in einer Diktatur, das Leben der Entkommenen, den Umgang mit dem eigenen Entrinnen. Poetisch und feinfühlig, zart und wehmütig, aber auch nüchtern und ohne Selbstmitleid schildert Lydia Tschukowskaja hier das (autobiografisch gefärbte) Schicksal einer Entkommenen. Jochen Kürten
Und was hat dich, hat Sie in seinen Bann gezogen? Dein Lese-Favorit, Ihr Lieblingsbuch - die Kommentarfunktion gleich unter diesem Text ist geöffnet!
"Ich bin Malala" von Malala Yousafzai und Christina Lamb
München (Droemer Verlag) 2013, 400 Seiten
Pakistan wird im Westen häufig mit Terrorismus gleichgesetzt. Umso beeindruckender ist es, dass uns ausgerechnet ein Terroropfer ein intimes, menschliches und differenziertes Bild der Region schenkt, in der Osama bin Laden sich jahrelang vor den Amerikanern versteckte.
Malala wurde 2012 von einem Taliban aus unmittelbarer Nähe in den Kopf geschossen, weil sie sich für die Rechte von Frauen und Mädchen in Pakistan öffentlich einsetzte - und hat es überlebt. Doch die Autobiografie der mittlerweile 17-Jährigen ist nicht voller Groll. Was Frauenrechte und politische Korruption angeht, nimmt Malala kein Blatt vor den Mund. Sie erzählt aber gleichzeitig von der Gastfreundschaft, der reichen literarischen Tradition und den Träumen und Werten ihres Volkes, der Paschtunen.
Vor allem aber steckt Malala mit ihrer größten Leidenschaft an: der Liebe zur Bildung und dem Glaube daran, dass jeder Mensch ein Recht darauf hat. Kate Müser
"1815 - Napoleons Sturz und der Wiener Kongress" von Adam Zamoyski
Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting, München (C. H. Beck Verlag) 2014, 704 Seiten
Als ich vor drei Jahren Zamoyskis Wälzer über das Jahr "1812" und die Geschichte von "Napoleons Feldzug in Russland" geschenkt bekam, war ich, um ehrlich zu sein, nicht sicher, ob ich mit meiner Lektüre weit über den Anfang hinaus kommen würde. Ein 720 Seiten langes historisches Sachbuch, das konnte nur anstrengend sein, staubtrocken, meine Nase begann schon auf Verdacht hin zu jucken. Inzwischen habe ich den Titel selber drei Mal verschenkt, kein Wunder, dass er nach den USA auch in Deutschland zum Bestseller wurde. Kein anderes Buch hat mir intensiver den unfasslichen Wahnsinn historischer Umwälzungen durch Kriege und Schlachten klargemacht. Die Willkür von Entscheidungen, die für Zigtausende den Tod bedeuteten, die Verblendung eines Herrschers und seiner Generäle, die zu einem der größten militärischen Desaster der Neuzeit führte, in zahllosen, genau recherchierten Details veranschaulicht.
Vor einem halben Jahr ist der Folgeband über die Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress erschienen. Wieder geht es um Krieg und Frieden in Europa, um Napoleons unheilvollen Kampf um den Thron und Machtverschiebungen gewaltigen Ausmaßes. Zamoyski erzählt "dieses dramatische Schauspiel mit all seinen vielen Schicksalswendungen" auch in seinem neuen Band äußerst detailreich, nebenbei mit viel Klatsch und Tratsch – der Kongress tanzte schließlich auch – und genauestens belegt. Metternich, Talleyrand, Franz I. von Österreich oder Zar Alexander I. von Russland – all die adeligen oder politischen Akteure jener für Europa folgenreichsten Wendezeit treten der Leserin mitsamt ihren Fürstinnen und Geliebten höchst lebendig entgegen. Die historische Abhandlung wird durch sie und durch die plötzlich begreifliche Ungeheuerlichkeit des Geschilderten sehr unterhaltsam, passagenweise spannend wie ein Krimi, und bleibt doch eben das: ein in seinen Fakten verlässliches, in seinen Interpretationen kluges Geschichtsbuch. Sabine Peschel
"Judas" von Amos Oz
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Frankfurt (Suhrkamp Verlag) 2015, 335 Seiten
Nur selten warte ich bei einem Autoren ungeduldig auf ein Werk. "Judas" von Amos Oz gehört dazu. Warum diese Ungeduld? Zuvor hatte der israelische Autor zwei stark autobiografische Bücher geschrieben: Der Roman "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" (2004) handelt vom Leben und der Liebe zwischen Fania Mussman und Arie Klausner im neu gegründeten Staat Israel und ihrem kleinen Sohn Amos. Autor Oz, der als Amos Klausner geboren wurde, ging mit 15 Jahren in den Kibbuz, eine landwirtschaftliche, israelische Dorfgemeinschaft, und nannte sich fortan Oz – Hebräisch für Stärke. Vom Leben im Kibbuz erzählen dann seine Kurzgeschichten in "Unter Freunden" (2013). Beide Bücher haben mich mit ihren oft traurigen, zärtlich erzählten Geschichten sehr berührt. Weil Amos Oz wunderbar schreiben kann. Weil die Geschichte des Staates Israel mich fasziniert. Und weil vieles, das Oz in "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" über die Menschen erzählt, so oder so ähnlich passiert ist. Das 800-Seiten-Buch gilt als Weltliteratur und vielleicht sein größtes Werk. Was kann danach noch kommen? "Judas" ist nicht Oz' erster Roman seitdem, doch er kehrt ebenfalls zeitlich zurück - diesmal in die 1950er Jahre in Jerusalem. Der dem Scheitern nahe junge Schmuel Asch ist kein Alter Ego des Autors. Doch die Sprache von Amos Oz ist genauso gut wie vorher, seine Erzählweise den Figuren zugewandt mit freundlich-heiterem Blick. Amos Oz wird eigentlich immer besser. Klaudia Prevezanos
"Harter Schnitt" von Karin Slaughter
Aus dem Englischen (Originaltitel: "Fallen") von Klaus Berr, München (Blanvalet) 2015, 512 Seiten
Meist lese ich mehrere Bücher gleichzeitig, beim Pendeln in Bus und Bahn auf dem E-Book-Reader, oft auf Englisch. Gerade packen mich Karin Slaughters Südstaaten-Thriller, aktuell "Harter Schnitt" (Platz 10 der deutschen Taschenbuch-Bestsellerliste). Die Geschichten um Gerichtsmedizinerin Sara Linton sind hart und blutig – und machen süchtig. Dass sie permanent in Verbrechen und persönliche Tragödien verwickelt wird, ist zwar nicht wahrscheinlich, aber spannend erzählt und sorgfältig recherchiert. Gute Krimis sind Reisen mitten ins Herz einer Gesellschaft. Das literarische Kontrastprogramm dazu liegt auf meinem Nachttisch, gebunden, mit Schutzumschlag:
"Spiel der Zeit" von Ulla Hahn
München (Deutsche Verlags-Anstalt) 2014, 608 Seiten (Teil 1: Das verborgene Wort, DVA 2001, Teil 2: Aufbruch, DVA 2009)
Ulla Hahns Roman ist der Abschluss ihrer autobiographisch gefärbten Trilogie um die Arbeitertochter Hilla Palm, die im Deutschland der Nachkriegszeit um Bildung, Liebe und Anerkennung kämpft. Eine Geschichte vom schwierigen Erwachsenwerden – eines Mädchens und eines Landes. So schön dicht und subjektiv erzählt, dass ich Hilla fast persönlich zu kennen glaube. Susanne Spröer
"Via Mala" von John Knittel
Frankfurt (Fischer Taschenbuch) 6. Aufl. 2001, 512 Seiten
Das Buch, das mich in diesem Frühjahr besonders berührt hat, ist ein fast vergessener Roman des Schweizer Schriftstellers John Knittel aus dem Jahr 1934. "Via Mala" spielt in der gleichnamigen Schlucht im schweizerischen Graubünden. Am Fuß der Schlucht, wo selbst im Sommer kaum die Sonne hinkommt, betreibt der stets betrunkene und gewalttätige Jonas Lauretz eine Sägemühle. Ständig verprügelt er seine Frau und die Kinder, hält sie wie Sklaven, bringt sogar seine Zwillingstöchter um. Bis die Familie zurückschlägt. Knittels Stil ist so bildhaft, seine Beschreibungen der Landschaften und Stimmungen sind so lebendig, dass ich von der ersten bis zur letzten Sekunde in der Geschichte steckte. Sicher keine Weltliteratur, aber unglaublich packend, selten hat mich ein Buch so in seinen Bann gezogen. Silke Wünsch
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