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Politik

Brasilien debattiert über "linke Nazis"

Jean-Philip Struck | Thomas Milz
19. September 2018

Rechtsextremismus auf Brasilianisch: Im Netz wird über ein Video der deutschen Botschaft diskutiert, das über die Nazizeit informieren soll. Die Debatte treibt im vom Wahlkampf polarisierten Land jedoch bizarre Blüten.

Brasilien Hakenkreuz-Schmiererei an einer Mauer in Sao Paulo
Bild: Imago/Fotoarena

"Die Deutschen verstecken ihre Vergangenheit nicht." Mit diesem ins Portugiesische übersetzten Satz beginnt ein Video, das die deutsche Botschaft in Brasília vor einigen Tagen in sozialen Medien veröffentlichte. Es sollte zeigen, wie die deutsche Gesellschaft heute mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust umgeht. Doch das Lehrvideo traf auf ein politisch aufgeheiztes Brasilien. Am 7. Oktober wird hier ein neuer Präsident gewählt, und derzeit führt der ultra-rechte Jair Messias Bolsonaro das Rennen an. Das Land ist zwischen "Linken" und "Rechten" extrem polarisiert, wobei man in der hitzigen Debatte auch schon mal den ideologischen Kompass verliert. 

Das Video klassifiziert den Nazismus als eine rechtsextreme Ideologie. Es endet mit einem Aufruf von Bundesaußenminister Heiko Maas, sich den Rechtsextremisten entgegen zu stellen und Neonazis und Antisemiten nicht zu ignorieren.

Nachholbedarf an Geschichtsunterricht

Daraufhin erntete die Botschaft zahlreiche Kommentare von Brasilianern, die mit der Klassifizierung des Nazismus als "rechtsextrem" nicht einverstanden waren. "Hat sich Hitlers Partei nicht etwa Partido dos Trabalhadores Socialistas (Sozialistische Arbeiterpartei) genannt? Wo steckt denn da Rechtsextremismus drin?", kommentierte ein Nutzer, wobei er den offiziellen Namen - Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) - falsch zitierte.

Ein anderer kommentierte das Video folgendermaßen: "Da das aus dem Land kommt, das den Marxismus erfunden hat, und angesichts der Tatsache, dass Deutschland seit der Nachkriegszeit voll roter Läuse ist, ist es nur logisch, dass sie alles verzerren und den Rechten anlasten." Überfliegt man die Kommentare, fällt auf, dass viele, die den Nazismus als links darstellen, auch offen Stellung für den Kandidaten Bolsonaro einnehmen.

Brasiliens ultrarechter Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro wettert gerne gegen Homosexuelle und verherrlicht die Zeit der MilitärdiktaturBild: Getty Images/AFP/E. Sa

In rechten Zirkeln in Brasilien, die meist auch hinter Bolsonaro stehen, ist es in den vergangenen Jahren gang und gäbe geworden, den Nationalsozialismus als "linke Bewegung" zu klassifizieren. Das Hauptargument dabei ist, dass die NSDAP in ihrem Namen das Wort "sozialistisch" trägt. Folge man dieser Logik, müsse man sowohl die Demokratische Volksrepublik Korea als auch die vergangene Deutsche Demokratische Republik als Demokratien ansehen, sagt der deutsche Politikwissenschaftler Kai Michael Kenkel, der an der Katholischen Universität von Rio de Janeiro (PUC-RJ) lehrt, gegenüber der DW. 

Als weiteres Argument der Anhänger eines "linken Nazismus" werden der anti-liberale Wirtschaftsansatz und die Verstaatlichungspolitik des Nazi-Regimes angeführt. Dabei wird vergessen, dass auch die rechte Militärdiktatur in Brasilien (1964-85) derartige Tendenzen aufwies. Genau wie das rechte Regime von Spaniens Diktator Francisco Franco.

Den Nationalsozialismus als linke Ideologie darzustellen sei ihm neu, so Politikwissenschaftler Kenkel. In Deutschland sei es schließlich unumstritten, dass der Nazismus rechtsextrem war. Für den Politikwissenschaftler zeigt die Diskussion in Brasilien, dass der Geschichtsunterricht hier Nachholbedarf habe. Zudem werde sichtbar, dass Teile der brasilianischen Gesellschaft der historischen Wahrheit wenig Bedeutung beimessen.

Verzeihung für die Landsleute

Einige Kommentare zu dem Lehrvideo gingen noch weiter und leugneten gar die Existenz des Holocaust. Die Ermordung von Millionen Juden sei nichts weiter als ein "Holofraude" - das portugiesische Wort für Betrug ist "fraude". Die deutsche Botschaft musste mit einem klaren Statement reagieren: "Der Holocaust ist eine historische Tatsache".

Die deutsche Botschaft in Brasilia sah sich zu einer eindeutigen Klarstellung gezwungenBild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

Auch hunderte Brasilianer zeigten sich in Kommentaren entsetzt über die Leugnung des Holocaust. Einige baten die Botschaft um Verzeihung für die Kommentare ihrer Landsleute. Bis zum Dienstagnachmittag war das Video bereits 30.000 mal geteilt und eine Million mal gesehen worden. Zudem erhielt es über tausend Kommentare.

Die Idee, dass der Nationalsozialismus linke Wurzeln habe, verbreitet sich seit Jahren in Brasilien. Sie wird von konservativen Figuren wie dem Journalisten Olavo De Carvalho vertreten. Im Jahr 2016 schrieb der Politiker Eduardo Bolsonaro, Sohn von Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro, auf Twitter, dass der "Nazismus links" sei. Letztes Jahr veröffentlichte die rechts-konservative Initiative "Movimento Brasil Livre" (MBL) ein Video, in der ihr Vordenker Kim Kataguiri erklärt, dass der Nationalsozialismus weder Links noch Rechts, sondern ein "totalitärer dritter Weg" sei. Kataguiri, der in konservativen Kreisen sonst als ultra-rechts gilt, erntete dafür Kritik von Rechts. Er habe sich von "linkem Geschwafel" zu diesem Statement hinreißen lassen.

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