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Wie will Europa durch die Krise(n) steuern?

22. Juli 2022

Energie, Inflation, Lieferketten, Pandemiefolgen - die EU kämpft mit vielen Krisen gleichzeitig. Hier sind einige ihrer Lösungsversuche.

Europa Flagge Montage
Bild: picture-alliance/ZB/Montage DW

Zinserhöhung

Nach vielen Jahren der Nullzins-Politik hat die Europäische Zentralbank (EZB) endlich die Zinswende eingeleitet. Sie erhöhte den Leitzins von Null auf 0,5 Prozent, weitere Erhöhungen werden folgen.

Ob das reicht, die hohe Inflation von zuletzt 8,6 Prozent in der Eurozone in den Griff zu bekommen, ist mehr als fraglich. Zumal wesentliche Gründe für die Preissteigerungen außerhalb der Kontrolle der EU liegen: Die Energiepreise sind wegen der starken Nachfrage nach der Pandemie gestiegen, außerdem wegen des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Gerissene Lieferketten im globalen Handel wirken ebenfalls preistreibend.

Hinzu kommt, dass die EZB bei ihren Zinserhöhungen einen Drahtseilakt vollführt. In der ökonomischen Lehre steigen die Preise meist in Boom-Zeiten, wenn alle Kapazitäten ausgelastet sind. Höhere Zinsen wirken dann dämpfend, weil sie Kredite verteuern und damit auch die Wirtschaftsaktivität verlangsamen.

Jetzt aber trifft die Inflation auf EU-Staaten, die allesamt geschwächt aus der Pandemie hervorgehen, zum Teil mit stark erhöhten Schulden. Ohnehin angeschlagene Volkswirtschaften mit höheren Zinsen weiter zu schwächen, ist daher nicht ohne Risiko.

Anti-Krisen-Instrument TPI

Mit dem Ende der Nullzinspolitik kommt ein Gespenst zurück, dass die Eurozone vor gut zehn Jahren schon einmal an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat: die sehr unterschiedlichen Kreditbedingungen der Mitgliedsstaaten.

Länder leihen sich an den Finanzmärkten Geld, indem sie Staatsanleihen begeben. Je größer das Vertrauen der Investoren in die Bonität eines Landes ist, desto geringere Zinsen muss dieses Land für seine Schulden zahlen. Umgekehrt werden Länder mit hohen Schulden und schwächerer Wirtschaft "bestraft", indem Geldgeber höhere Zinsen verlangen. Dieser Unterschied, im Jargon auch Spread genannt, wird nun wieder größer. Italien zum Beispiel musste vor einem Jahr 1,21 Prozent höhere Zinsen zahlen als Deutschland, wenn es sich für zehn Jahre Geld leihen wollte. Inzwischen hat sich der Spread auf 2,26 fast verdoppelt.

Hoch verschuldete Länder wie Italien könnten dadurch in Schwierigkeiten geraten, weil höhere Zinskosten der Politik wenig finanziellen Spielraum lassen. Während der Euro-Schuldenkrise ab 2010 hatten Markteilnehmer deshalb begonnen, gegen einzelne Staaten zu spekulieren - eine Art Wette auf das Zusammenbrechen der Währungsunion.

Um eine Wiederkehr dieser Krise zu verhindern, hat die EZB eigens ein neues Werkzeug geschaffen. Mit dem Anleihekaufprogramm TPI (Transmission Protection Instrument) will sie gezielt jenen Staaten Geld leihen, denen die Märkte besonders wenig vertrauen. Es soll ein Signal sein an Spekulanten: Wettet nicht auf ein Ende der Währungsunion, da könnt ihr nur verlieren.

Die Schattenseite des neuen Instruments: Es ist der EZB verboten, direkte Staatsfinanzierung zu betreiben. Absehbar sind deshalb langwierige Streitigkeiten vor Gerichten über die Grenzen des EZB-Mandats. Auch dabei wird wieder deutlich werden, wie unterschiedlich die Ansprüche an eine gemeinsame Geldpolitik sind - was wiederum die Wetten gegen die Währungsunion verstärken dürfte.

Notfallplan Energie

Steigende Gaspreise haben die EU-Kommission veranlasst, einen Notfallplan Energie zu entwerfen. Dieser sieht vor, den Gasverbrauch in der EU im kommenden Winter um 15 Prozent zu verringern. Wenn diese Menge nicht auf freiwilliger Basis eingespart wird, will die EU-Kommission den "EU-Alarm" ausrufen und die Mitgliedsländer zum Sparen zwingen. Bestimmte Wirtschaftsbereiche könnten dann weniger Gas erhalten. Auch sind finanzielle Anreize für Unternehmen vorgesehen, die auf andere Energieträger umsteigen.

Der Notfallplan muss allerdings durch die EU-Staaten abgesegnet werden, um in Kraft treten zu können. Spanien und Portugal haben bereits Widerstand angekündigt und den Plan als "unhaltbar" abgelehnt. Auch hier stehen die Zeichen also auf Streit.

Staatliche Unterstützung für die Bürger

Viele EU-Länder haben Entlastungspakete geschnürt, um ihre Bürger angesichts steigender Inflation und hoher Energiekosten zu entlasten - und den Zorn der Wähler etwas zu mildern. Sie reichen von Steuererleichterungen über Pauschalabschläge auf Stromrechnungen und direkte Geldzahlungen bis zu staatlichen Beteiligungen an angeschlagenen Unternehmen, etwa im Fall des deutschen Energieversorgers Uniper.

Die Größe der Hilfspakete variiert von Land zu Land stark. Gemeinsam ist allen, dass sie die Staatshaushalte belasten und die Schulden weiter erhöhen. Und all das kommt zusätzlich zu den Belastungen, die die Länder während der Corona-Pandemie angehäuft haben. An den Finanzmärkten wird das aufmerksam beobachtet - und könnte dann zu steigenden Spreads führen (siehe oben).

EU-Wiederaufbaufonds

Um die enormen Belastungen durch die Corona-Pandemie zu schultern, hatte die EU 2020 den Corona-Wiederaufbaufonds aufgelegt. Mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro ist es das größte Hilfspaket in der Geschichte der Gemeinschaft. Das Geld soll den Ländern helfen, den pandemiebedingten Wirtschaftseinbruch zu überstehen und gleichzeitig Investitionen ermöglichen, um die Volkswirtschaften klimafreundlicher und digitaler zu machen.

Wie viele andere Maßnahmen zur Krisenbekämpfung in der EU, sendet auch der Wiederaufbaufonds gemischte Signale. Einerseits soll er Einigkeit demonstrieren und die Stärke der Gemeinschaft. Es ist das erste Mal, dass die EU-Staaten dafür gemeinsame Schulden aufgenommen haben. Andererseits zeigte der Streit während der Verhandlungen, wie groß die Unterschiede zwischen den Ländern der EU sind. Streit und Kompromiss werden die Union wohl auch in Zukunft begleiten.

Andreas Becker Wirtschaftsredakteur mit Blick auf Welthandel, Geldpolitik, Globalisierung und Verteilungsfragen.
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