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Fünf Niederländer für die Weihnachtslektüre

Jochen Kürten
27. November 2016

Die Gastland-Regionen Flandern/Niederlande haben auf der Buchmesse Frankfurt eine Flut an herausragenden Romanen präsentiert. Und viel Neues in die Buchläden gebracht. Genug Lesestoff für viele Wochen.

Pictureteaser Advent Bücher

Über 350 Titel aus dem niederländisch/flämischen Sprachraum wurden anlässlich der 68. Frankfurter Buchmesse ins Deutsche übersetzt. Romane und Erzählungen, Lyrikbände und Sachbücher waren darunter. Wie bei kaum einem anderen Gastland zuvor haben die Leser nun die Qual der Wahl. Zehn lesenswerte Romane haben wir Ihnen zur Messe bereits vorgestellt. Für die winterlichen Tage, die Lieblingslesezeit der Menschen, folgen nun weitere fünf Buch-Empfehlungen.

Bernlef (Hendrik Jan Marsman)Bild: Reclam Verlag/M. Hendryckx

Bernlef: Hirngespinste

Dieser Klassiker der modernen niederländischen Literaturgeschichte erschien in Holland 1984. Auch ins Deutsche wurde er übersetzt, der Reclam-Verlag hat ihn vor der Buchmesse als Taschenbuch wieder neu aufgelegt. Das hat wohl auch damit zu tun, dass Autor Bernlef einer der ersten war, der sich dem Thema Alzheimer literarisch näherte, lange bevor die Krankheit in Kino und Literatur Einzug hielt.

Bernlef (eigentlich Hendrik Jan Marsman) erzählt hier knapp und präzise von nichts anderem als dem individuellen Verschwinden des Denkens und Begreifens. Und zwar aus der Perspektive seiner literarischen Hauptfigur Maarten Klein: Sind es anfangs noch zusammenhängende Sätze, die Maarten formuliert, stößt der Leser am Ende des Buches fast nur noch auf Satzfetzen.

Bernlef, der sich eine "Obsession für die Funktion des Gehirns" attestierte, schreibt im Nachwort zu einer späteren Ausgabe seines Romans: "Heute gibt es zahllose Bücher über dieses Thema, und auch das Fernsehen widmet ihm die gebührende Aufmerksamkeit; die Alzheimer-Krankheit ist zum Gesprächsstoff geworden. Doch daraus ergibt sich noch keine Antwort auf die Frage, die sich vor allem die Familienangehörigen der betroffenen Kranken stellen: Was genau geht im Kopf eines solchen Menschen vor? 'Hirngespinste' versucht, auf diese Frage eine (fiktive) Antwort zu geben."
Bernlef: Hirngespinste, Reclam Verlag, 164 Seiten, übersetzt von Maria Csollány, ISBN 9783150204603;

Saskia de CosterBild: picture-alliance/dpa/U. Zucchi


Saskia de Coster: Wir & Ich

Um Familienbande geht es im Roman der belgischen Schriftstellerin Saskia De Coster, um Familie und das Bild, was Mutter, Vater und Tochter nach Außen abgeben. Eine klassische Konstellation: Stefaan, Mieke und Sarah leben auf dem "Berg", einer Villengegend für die sehr Wohlhabenden - vom Rest der Stadt getrennt durch Sprache, viel Grün und dicke Mauern. Und wie in so vielen Familienromanen, lässt auch die Autorin Saskia de Coster die Neurosen für sich sprechen.

Stefaan, der sein Geld in der Pharmabranche verdient, flüchtet lieber in Bob Dylan-Songs als sich der Realität zu stellen. Seine Frau Mieke sorgt sich ums Haus und pflegt ihre Teppiche. Der Weg von Sarah ist noch nicht vorgezeichnet. Und dann ist da auch noch Stefaans Mutter Melanie, eine Art Hausdrachen. Das Quartett wird gesprengt vom Jempey, Miekes Bruder, der lange im Knast saß und sich nun bei der Familie einquartiert. Vor allem Sarah fühlt sich inspiriert - zu einem gänzlich anderen Leben. Mit einigem schwarzen Humor und sehr süffig erzählt die 1976 in Löwen geborene Saskia de Coster vom Schein und Sein wohlhabender Kreise in Flandern. Ein echter Leseschmöker!
Saskia de Coster : Wir & Ich, Tropen, 408 Seiten, übersetzt von Isabel Hessel, ISBN 9783608501568;

Dola de JongBild: Kunstmann Verlag

Dola de Jong: Das Feld in der Fremde

Ein Flüchtlings-Roman aus dem Jahre 1945 - und eine sagenhafte Entdeckung für den deutschsprachigen Buchmarkt. Dola de Jong flüchtete 1940 vor den Nazis und schlug sich ins marokkanische Tanger durch. Mit einem Flüchtlingsschiff setzte sie dann während des Zweiten Weltkriegs nach New York über. Ihre Zeit in Tanger hat sie in New York literarisch verarbeitet: in dem Roman "And the Field Is the World", der zunächst in Englisch erschien, nach dem Krieg auch in Holland. Erst jetzt liegt er in Deutsch vor.

Stark autobiografisch geprägt erzählt de Jong vom holländischen Paar Lies und Art, das aus ihrer europäischen Heimat nach Afrika reist und während der Flucht Waisenkinder aus mehreren Nationen aufsammelt. Vor allem die entbehrungsreichen Jahre in Tanger schildert die Autorin hautnah. Aart versucht dem kargen Klima ein wenig Landwirtschaft abzutrotzen - ein hoffnungsloses Unterfangen. Doch trotz all der erlebten Demütigungen und Mühsal, sind die Kinder in der Fremde nicht ohne Hoffnung. Ein eindrücklicher Roman einer hier fast unbekannten Autorin. Sie übertrug später das Tagebuch der Anne Frank ins Englische und starb 2003 in Kalifornien.
Dola de Jong: Das Feld in der Fremde, Kunstmann, 272 Seiten, übersetzt von Anna Carstens, ISBN 9783956141232;

Allard SchröderBild: A. van Wijgerden

Allard Schröder: Der Hydrograf

Auch Franz von Karsch-Kurwitz ist auf der Flucht. Doch anders als die Kinder in de Jongs Roman ist es nicht der bevorstehende Krieg, der den jungen Hydrografen, einen Erforscher von Meer und Wasser, weg von der Heimat treibt. Es ist die Angst vor der eigenen Zukunft. Von Karsch-Kurwitz reist am Vorabend des Ersten Weltkriegs aus seiner pommerschen Heimat nach Chile. In Hamburg betritt er den Viermaster "Poseidon", der Salpeter nach Valparaíso verschiffen soll. Mit an Deck auch noch ein paar andere Passagiere, mit denen der Hydrograf sich anfreundet.

Vor allem sucht er die Nähe der geheimnisvollen Asta Maris, die in Lissabon an Bord geht. In der Heimat sollte von Karsch-Kurwitz verheiratet werden, doch es war keine Liebesheirat, sondern eine arrangierte Ehe. An Bord der "Poseidon" entdeckt der junge Wissenschaftler durch die junge Asta, dass es da noch etwas ganz anders gibt als ein verplantes Leben in der Bürgerlichkeit. Man begleitet diesen etwas schrulligen Franz von Karsch-Kurwitz als Leser gern. Allard Schröder hat für seinen Roman 2002 den hochdotierten niederländischen Literaturpreis AOK bekommen. Sein Buch wurde erst jetzt, zum Gastland-Auftritt in Frankfurt, ins Deutsche übertragen.
Allard Schröder : Der Hydrograf, Mare, 204 Seiten, übersetzt von Andreas Gressmann, ISBN 9783866482623;

Pieter WebelingBild: privat

Pieter Webeling: Die Stunde des Schmetterlings

Und auch die Protagonisten in Pieter Webelings Roman "Die Stunde des Schmetterlings" wollen weg aus den Zwängen und Beschränkungen der heimatlichen Enge. Wie Schröders Roman spielt auch Webelings Erzählung zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Hier hat der Protagonist Julius Reinhardt allerdings schon zehn Monate Kriegseinsatz hinter sich. Gemeinsam mit drei Freunden hat Julius die heimatliche sächsische Provinz verlassen, wie so viele junge Männer enthusiastisch und im Glauben, das "Stahlbad Krieg" würde zu ganz neuen Lebenserfahrungen führen. Doch die vier Freunde erleben das nackte Grauen, Tod, Verrat und Schuld.

Julius wird damit nicht fertig. Er will sich umbringen. Inmitten der Ruinen eines völlig zerstörten Dorfes an der französischen Front hält ihn ein Priester davon ab. Julius beginnt zu erzählen. "Die Stunde des Schmetterlings" ist eine Kriegs-Beichte, ein Roman über die Schrecken des Schlachtens und die Last der Vergangenheit. "Der Mensch, mein Junge, hätte eigentlich die Krone der Schöpfung sein sollen", klärt der Priester Julius auf, "Aber wir haben es vermasselt - schon lange vor dem Krieg. Der Mensch verpuppt sich vom Schmetterling zur Raupe."
Pieter Webeling: Die Stunde des Schmetterlings, Blessing Verlag, 302 Seiten, übersetzt von Christiane Burkhardt, ISBN 9783 896675682.

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