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Annie Ernaux und ihr "unerbittlicher Blick"

Nikolas Fischer | Philipp Jedicke mit dpa
10. Dezember 2022

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux ist mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden. Die 82-Jährige wurde im Konzerthaus von Stockholm für ihre literarische Arbeit geehrt.

Schweden | Nobelpreis Verleihung in Stockholm | Annie Ernaux
Der schwedische König Carl XVI. Gustaf überreicht Annie Ernaux den Nobelpreis für LiteraturBild: Christine Olsson/TT/picture alliance

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux hat in Stockholm den Literaturnobelpreis entgegengenommen. König Carl XVI. Gustaf von Schweden überreichte ihr die renommierte Nobelmedaille, ebenso wie den Ausgezeichneten in den wissenschaftlichen Preiskategorien. "Ein unerbittlicher Blick und ein schlichter Stil sind Markenzeichen von Annie Ernaux", würdigte Anders Olsson, der Vorsitzende des Nobelkomitees der Schwedischen Akademie, die Preisträgerin. Der Nobelpreis für Literatur gilt als wichtigste literarische Auszeichnung der Welt und ist mit zehn Millionen schwedischen Kronen (rund 920.000 Euro) dotiert.

"Unerbittlicher Blick und schlichter Stil"

Bekanntgegeben worden war die Auszeichnung für die 82-Jährige bereits Anfang Oktober. Die Nobelpreise werden jedes Jahr am 10. Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, in feierlichen Zeremonien in Stockholm und Oslo überreicht. Auf der Longlist des Preises standen diesmal 233 Kandidatinnen und Kandidaten. Ihre Namen bleiben geheim und unterliegen einer 50-jährigen Sperrfrist. Mit Ernaux hatte sich diesmal eine langjährige Favoritin durchgesetzt.

"Seit ich lesen konnte, waren Bücher meine Begleiter, und Lesen war meine natürliche Beschäftigung außerhalb der Schule", hatte Ernaux bereits am Mittwoch (07.12.2022) in ihrer Nobellesung in der Schwedischen Akademie in Stockholm erzählt. Dieser Appetit sei von einer Mutter genährt worden, die es bevorzugt habe, dass sie lese statt nähe oder stricke. Die hohen Kosten von Büchern und das Misstrauen, mit denen sie an ihrer religiösen Schule betrachtet worden seien, hätten die Werke noch begehrenswerter für sie gemacht. Auf "gutes Schreiben" und "schöne Sätze" habe sie später verzichtet und stattdessen eine Sprache gewählt, die "Wut, Grobheit und sogar Spott" transportiere.

"Noch mehr Lust zum Schreiben"

Ernaux bei ihrer "Nobel lecture" am 7. DezemberBild: Fredrik Persson/AP Photo/picture alliance

Inwieweit der Nobelpreis ihre Arbeit beeinflussen werde, könne sie zwar nicht sagen, so Ernaux auf einer Pressekonferenz in der Stockholmer Altstadt am Vortag (06.12.2022). Aber "was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich noch mehr Lust zum Schreiben habe." Die Nobelpreis-Bekanntgabe Anfang Oktober habe sie überrumpelt. Es sei ein großer Schock gewesen, die Auszeichnung zu erhalten, aber auch eine Ehre. Für sie bedeute der Preis, dass nun mehr Menschen "an ihre Tür klopfen", um ihre Meinung zu verschiedenen Themen zu hören. Dies bedeute aber nicht, dass sie sich mehr der Politik widmen werde. "Ich muss sagen, dass ich vor allem weiterhin auf persönliche Weise schreiben möchte, und nicht Petitionen", so die Schriftstellerin.

Annie Ernaux (vordere Reihe, 4.v.r.) inmitten weiterer Nobelpreisträgerinnen und -träger (10.12.2022)Bild: Christine Olsson/TT/IMAGO

Die französische Autorin wurde von der Schwedischen Akademie für ihren "Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Zwänge der persönlichen Erinnerung aufdeckt" geehrt. Annie Ernaux sieht in der Auszeichnung eine Aufforderung, ihren Kampf gegen Ungerechtigkeiten in der Welt fortzuführen. "Den Nobelpreis zu bekommen, ist für mich die Verantwortung weiterzumachen", hatte sie im Oktober gesagt. Auch verspüre sie die Verantwortung, offen zu sein für den Lauf der Welt.

Schwedische Akademie: "Literatur von bleibendem Wert"

Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, auf Deutsch erschienen unter anderem "Die Jahre", "Erinnerungen eines Mädchens" und "Das Ereignis". Ihr Weg zur Schriftstellerin sei lang und mühsam gewesen, erklärte die Akademie. Ernaux untersuche konsequent und aus verschiedenen Blickwinkeln Geschlechterrollen, Sprache und Klassenunterschiede. Mit ihrer kompromisslosen Arbeit habe sie Literatur von bleibendem Wert erschaffen.

Für den deutschen Literaturkritiker Denis Scheck war die 82-jährige Französin eine der europäischen Favoritinnen: "Sie ist der Leitstern für ganz viele Autoren, weil sie die Urmutter der Autofiktion ist", so Scheck gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Die Schriftstellerin setze sich mit Klassenschranken und somit auch mit hochpolitischen Fragen auseinander - aber eben nicht denjenigen, von denen man auf Seite eins einer Tageszeitung lese. 

Ethnologin ihrer selbst

Annie Ernaux, geboren 1940 in der Normandie in bescheidenen Verhältnissen, und bezeichnet sich laut ihrem deutschen Verlag Suhrkamp als "Ethnologin ihrer selbst". Seit 1974 veröffentlicht sie Bücher, die vor allem autobiografisch geprägt sind. In den 1980er-Jahren gelang ihr der internationale Durchbruch. Immer wieder verfasste sie Werke wie "Die Jahre" (2018), die - weit über das Autobiografische hinaus - gesellschaftliche Entwicklungen abbilden.

Auch Ernauxs Buch "Erinnerung eines Mädchens" ist autobiografisch

Ernaux gilt eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit und hat bereits in der Vergangenheit zahlreiche Literaturpreise gewonnen, darunter den Prix Marguerite Duras, den Deutschen Hörbuchpreis oder den Würth-Preis für Europäische Literatur. 2019 stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2019. 

Spekulationen in alle Richtungen

In alle Richtungen war im Vorfeld des Literaturnobelpreises spekuliert worden: Bekommt der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie den Preis, der kürzlich während eines Vortrags in den USA durch eine Messerattacke lebensgefährlich verletzt wurde? Oder geht er an eine Autorin oder einen Autor aus der Ukraine? Wird der Preis Margaret Atwood verliehen, der kanadischen Schriftstellerin, die in ihren Romanen, Kurzgeschichten und Essays immer wieder höchst erfolgreich gesellschaftlich relevante Themen verarbeitet? Oder Haruki Murakami, dem japanischen Meister der Beobachtung?

Auch die Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie oder der Kenianer Ngugi wa Thiong'o gehören zu den großen Stimmen der Weltliteratur, deren Werke in viele Sprachen übersetzt werden.

Seit Jahren eine der Favoritinnen: die kanadische Schriftstellerin Margaret AtwoodBild: Hay Festival

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine beschäftigt in diesem Jahr die ganze Welt - auch die Schwedische Akademie. Die altehrwürdige Institution äußert sich in der Regel nicht zu politischen Themen, hat aber den russischen Einmarsch in die Ukraine schon früh aufs Schärfste verurteilt. Russlands Vorgehen gehe über die Politik hinaus und bedrohe die Weltordnung, die auf Frieden, Freiheit und Demokratie aufbaue, schrieb die Akademie Anfang März in einer Erklärung. Denis Scheck sagte dazu gegenüber der dpa, er hoffe doch sehr, dass man einen Friedensnobelpreis in die Ukraine schicke. "Aber den Literaturnobelpreis möchte ich nicht so politisiert sehen." Er solle nach ästhetischen Kriterien vergeben werden - nicht nach politischen.

Kontroversen und Überraschungen

Kontroversen ging die Schwedische Akademie in den letzten Jahren nicht aus dem Weg. Die Vergabe des Preises an die US-Singer/Songwriter-Legende Bob Dylan 2016 war äußerst umstritten, die an den Österreicher Peter Handke, der wegen seiner Haltungen zum Jugoslawien-Konflikt kritisiert wurde, war es im Jahr 2019 mindestens genauso. Dazwischen erlebte die Akademie zudem einen großen Skandal um das mittlerweile ausgetretene Mitglied Katarina Frostenson und ihren wegen Vergewaltigung verurteilten Ehemann Jean-Claude Arnault, der weltweit für Aufmerksamkeit sorgte. Wegen des Skandals wurde im Jahr 2018 zunächst kein Literaturnobelpreis vergeben. 2019 folgte dann eine Doppel-Vergabe an die Polin Olga Tokarczuk als nachgeholte Preisträgerin für 2018 und besagten Peter Handke.

In den vergangenen Jahren überraschte die Akademie die Literaturwelt mit Preisträgern wie Louise Glück oder Abdulrazak Gurnah, die selbst vielen Literaturkennern nicht bekannt waren. Expertinnen und Experten rätselten daraufhin, ob 2022 nun eher wieder jemand Unbekanntes gewinnen würde oder nun erst recht einer der großen Namen, die schon lange auf der Liste stehen. 

Abdulrazak Gurnah 2021 mit seiner MedailleBild: Matt Dunham/AP/picture alliance

Raum für Interpretation

Das Ziel der Akademie sollte jedoch nicht die Überraschung sein. Der Preisstifter, der schwedische Chemiker und Erfinder Alfred Nobel, schrieb in seinem Testament, dass der Literaturpreis an jene Autorin oder jenen Autor gehen soll, der "das Ausgezeichnetste in idealistischer Richtung geschaffen hat". Diese Aussage bietet natürlich eine Menge Raum für Interpretation, daher gehen die Vorschläge, die aus aller Welt nach Stockholm gehen, in völlig unterschiedliche literarische, politische und gesellschaftliche Richtungen. 

Kein Nobelpreis für Autor Stephen King?

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Der Literaturnobelpreis kann übrigens nur an Lebende gehen. Verstirbt ein Preisträger zwischen Bekanntgabe im Oktober und der Vergabe des Preises im Dezember, erhält er oder sie die Ehrung posthum. Im Gegensatz zu den anderen Nobelpreisen geht es beim Literaturnobelpreis um das gesamte Lebenswerk einer Autorin oder eines Autors - nicht um einzelne herausragende Leistungen. Und er gilt als der bedeutendste unter allen Nobelpreisen.

Riten und Vergabepraxis

Für die Vergabe des Preises ist die Schwedische Akademie zuständig, die die Auswahl wiederum aus ihren Reihen an ein fünfköpfiges Nobelkomitee delegiert. 600 bis 700 ausgewählte Personen aus der ganzen Welt machen ab September des Vorjahres ihre Vorschläge, darunter bisherige Preisträgerinnen und Preisträger, Mitglieder der Schwedischen Akademie und vergleichbaren Institutionen, Uniprofessorinnen und -professoren für Literatur und Linguistik und Vorsitzende von Schriftstellerverbänden verschiedener Länder.

Die begehrte Medaille des Literaturnobelpreises mit dem Konterfei Alfred NobelsBild: Daniel Reinhardt/dpa/picture alliance

Dies ist die aktualisierte Version eines Textes vom 6. Oktober 2022.

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