Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux ist mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden. Die 82-Jährige
wurde im Konzerthaus von Stockholm für ihre literarische Arbeit geehrt.
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Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux hat in Stockholm den Literaturnobelpreis entgegengenommen. König Carl XVI. Gustaf von Schweden überreichte ihr die renommierte Nobelmedaille, ebenso wie den Ausgezeichneten in den wissenschaftlichen Preiskategorien. "Ein unerbittlicher Blick und ein schlichter Stil sind Markenzeichen von Annie Ernaux", würdigte Anders Olsson, der Vorsitzende des Nobelkomitees der Schwedischen Akademie, die Preisträgerin. Der Nobelpreis für Literatur gilt als wichtigste literarische Auszeichnung der Welt und ist mit zehn Millionen schwedischen Kronen (rund 920.000 Euro) dotiert.
"Unerbittlicher Blick und schlichter Stil"
Bekanntgegeben worden war die Auszeichnung für die 82-Jährige bereits Anfang Oktober. Die Nobelpreise werden jedes Jahr am 10. Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, in feierlichen Zeremonien in Stockholm und Oslo überreicht. Auf der Longlist des Preises standen diesmal 233 Kandidatinnen und Kandidaten. Ihre Namen bleiben geheim und unterliegen einer 50-jährigen Sperrfrist. Mit Ernaux hatte sich diesmal eine langjährige Favoritin durchgesetzt.
Die Literaturnobelpreisträger seit 2000
Die Preisträger seit der Jahrtausendwende könnten unterschiedlicher kaum sein. Darunter sind eine sarkastische Österreicherin, ein umstrittener chinesischer Autor und ein Norweger, der königlich residiert.
Bild: Jessica Gow/picture alliance
2023: Jon Fosse
Ihn hatte 2023 wohl keiner so richtig auf dem Schirm, obwohl er eigentlich zum Favoritenkreis zählte: Jon Fosse. Der Norweger ist der renommierteste Autor seines Landes und hat auch international eine treue Leserschaft. Der 64-Jährige bewohnt in Oslo eine Künstlerresidenz im Schloss des Königs. Fosses umfangreiches, melancholisch geprägtes Werk wurde schon mehrfach ausgezeichnet.
Bild: Jessica Gow/picture alliance
2022: Annie Ernaux
Der Nobelpreis für Literatur 2022 ging an die Französin Annie Ernaux. Die 82-jährige Autorin stammt aus der Normandie und wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Ihr Leben hat sie in ihren Büchern immer wieder autobiografisch verarbeitet. Sie galt schon seit Jahren als Favoritin für den Nobelpreis.
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2021: Abdulrazak Gurnah
Der Überraschungsgewinner 2021 ist der 1948 geborene tansanische Autor Abdulrazak Gurnah. Er wuchs auf Sansibar auf und kam als Flüchtling Ende der 1960er-Jahre nach Großbritannien, wo er seither lebt. Obwohl Swahili seine Muttersprache ist, schreibt Gurnah seine Bücher auf Englisch. Sein vierter Roman "Das verlorene Paradies" (1994) brachte ihm den internationalen Durchbruch.
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2020: Louise Glück
Die mit dem Literaturnobelpreis gekrönte US-amerikanische Dichterin und Essayistin hatte in ihrer Heimat bereits viele Auszeichnungen erhalten, darunter den Pulitzer-Preis, den National Book Award sowie die National Humanities Medal, die ihr 2016 von Barack Obama überreicht wurde. Zu ihren bekanntesten Werken zählen "The Triumph of Achilles" (1985) und "Wilde Iris" (1992).
Bild: Daniel Ebersole/Nobel Prize Outreach/Handout/REUTERS
2019: Peter Handke
Der Österreicher wurde mit experimentellen Theaterstücken wie seiner "Publikumsbeschimpfung" von 1966 bekannt. Außerdem schrieb er gemeinsam mit Wim Wenders Drehbücher, darunter "Der Himmel über Berlin". Die Auszeichnung Handkes war wegen seiner Haltung zu den Jugoslawien-Kriegen umstritten. Zudem hatte er 2015 die Abschaffung des Literaturnobelpreises gefordert und ihn als "Zirkus" bezeichnet.
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2018: Olga Tokarczuk
Die polnische Schriftstellerin erhielt den Nobelpreis 2018 eigentlich erst 2019 - da die Verleihung nach allerlei Skandalen in der den Preis vergebenden Schwedischen Akademie um ein Jahr verschoben wurde. Die zweifache Gewinnerin des Nike-Preises, dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, wurde 2010 schon für ihren Roman "Flights" ("Unrast") mit dem Man Booker International Prize geehrt.
Bild: Krzysztof Kaniewski/Eastnews/IMAGO
2017: Kazuo Ishiguro
Der in Japan geborene britische Romancier, Drehbuchautor und Verfasser von Kurzgeschichten wurde 2017 ausgezeichnet. Kazuo Ishiguros bekanntester Roman "Was vom Tage übrig blieb" ("The Remains of the Day") aus dem Jahr 1989 wurde mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle verfilmt. Ishiguros Werke beschäftigen sich mit Erinnerung, Zeit und Selbsttäuschung.
Bild: Ben Stansall/AFP/Getty Images
2016: Bob Dylan
Der US-amerikanische Singer-Songwriter erhält die Auszeichnung 2016 für seine "poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Gesangstradition" hieß es bei der Bekanntgabe des Preises. In den 1960er Jahren begann seine Karriere als Folksänger, im Zuge der Protestbewegungen avancierte er an der Seite von Joan Baez zur Ikone der Hippie- und Bürgerrechtsbewegung in den USA.
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2015: Swetlana Alexijewitsch
Mit der weißrussischen Autorin würdigte das Nobelkomitee eine neue Form von Autorenschaft: In ihren Reportagen und Essays entwickelte Swetlana Alexijewitsch ihren ganz eigenen literarischen Stil. Sie führte Interviews und verdichtete diese zu emotionalen Collagen des tagtäglichen Lebens. Niemand sonst hat den Zerfall der UdSSR so dokumentiert wie sie, als eine Chronistin menschlichen Leids.
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2014: Patrick Modiano
Krieg, Liebe, Besatzung, Tod: Das sind die Themen, mit denen sich der französische Autor Patrick Modiano beschäftigt, um die Erinnerungen an seine unglückliche Kindheit im Paris der Nachkriegszeit aufzuarbeiten. Für eben diese "ganz besondere Erinnerungskunst" zeichnete ihn die Jury aus. In Frankreich schon lange hochgeschätzt, zählte Modiano bis dahin international eher zu den großen Unbekannten.
Bild: PATRICK KOVARIK/AFP
2013: Alice Munro
2013 gewann die kanadische Schriftstellerin Alice Munro den Literaturnobelpreis. Für die Schwedische Akademie, die den Preis seit 1901 jährlich vergibt, ist sie die "Meisterin der zeitgenössischen Zeitgeschichte". Munros Vorgänger der jüngsten Vergangenheit sind Vertreter unterschiedlichster literarischer Traditionen und Genres.
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2012: Mo Yan
Das Nobelkomitee würdigte Guan Moye, besser bekannt unter seinem Pseudonym Mo Yan, als Autor, der "mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart vereint". Die Entscheidung wurde von chinesischen Künstler-Kollegen wie Ai Weiwei kritisiert. Mo Yan sei dem kommunistischen Regime zu nah.
Ihre Entscheidung für Tomas Gösta Tranströmer begründete die Jury 2011 mit seinen "komprimierten, erhellenden Bildern, die neue Wege zum Wirklichen weisen." In den 1960er Jahren arbeitete der schwedische Dichter als Psychologe an einer Einrichtung für straffällig gewordene Jugendliche. Seine Gedichte wurden in über 60 Sprachen übersetzt.
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2010: Mario Vargas Llosa
Der peruanische Schriftsteller erhielt den Nobelpreis für "seine Kartografie von Machtstrukturen und seine energischen Bilder des individuellen Widerstands, der Rebellion und Niederlage." In Lateinamerika ist er vor allem für seinen 1990 im Fernsehen geäußerten Satz "Mexiko ist die perfekte Diktatur" und seine Faustattacke gegen den früheren Freund Gabriel García Márquez 1976 bekannt.
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2009: Herta Müller
Die deutsch-rumänische Schriftstellern zeichne "mittels der Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit", so die Begründung der Jury zur letzten deutschsprachigen Gewinnerin. In ihren Werken kritisiert sie das autoritäre Ceaușescu-Regime, das Rumänien bis 1989 regierte. Ihr Roman "Atemschaukel" (1990) wurde in mehr als 50 Sprachen übersetzt.
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2008: J.M.G. Le Clézio
Le Clézio sei der "Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase" und der "Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation", begründete die Akademie damals die Auszeichnung. Jean-Marie Gustave Le Clézio ist der Sohn einer Französin und eines Mauritiers. Den Inselstaat im Indischen Ozean nennt er sein "kleines Vaterland".
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2007: Doris Lessing
Zum Werk der britischen Autorin gehören unter anderem Romane, Theaterstücke und Kurzgeschichten. Die Akademie würdigte Lessing als "Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat." Sie engagierte sich gegen Atomkraft und war eine lautstarke Gegnerin des Apartheid-Regimes in Südafrika.
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2006: Orhan Pamuk
Ferit Orhan Pamuk, "der auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Heimatstadt neue Sinnbilder für Streit und Verflechtung der Kulturen gefunden hat", war der erste türkische Literaturnobelpreisträger. Mit elf Millionen verkauften Büchern in mittlerweile 35 Sprachen ist er der meistgelesene türkische Schriftsteller weltweit. Eine literarische Hommage an seine Stadt, Istanbul.
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2005: Harold Pinter
Der britische Dramatiker starb drei Jahre nach der Auszeichnung an Lungenkrebs. Harold Pinter habe in seinen Dramen "den Abgrund unter dem alltäglichen Geschwätz freilegt" und sei "in den geschlossenen Raum der Unterdrückung" eingebrochen, so die Begründung der Jury. In vielen seiner Stücke übernahm er selbst Rollen und führte Regie.
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2004: Elfriede Jelinek
Die österreichische Schriftstellerin bekam den Nobelpreis für "den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen", der soziale Klischees enthülle. Ein zentrales Thema in Jelineks Werken ist die weibliche Sexualität. Ihr Roman "Die Klavierspielerin" (1983) ist die Vorlage für die gleichnamige Verfilmung aus dem Jahr 2011 mit der Französin Isabelle Huppert in der Hauptrolle.
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2003: John M. Coetzee
John Maxwell Coetzee porträtiere "die Teilhaftigkeit des Menschen an der Vielfalt des Daseins in oft überrumpelnder Weise", lobte die Jury den Autoren. Neben dem Literaturnobelpreis hat der Südafrikaner bereits zwei Mal den renommierten Man Booker Prize erhalten. Sein wohl bekanntester Roman "Schande" (1999) beschäftigt sich mit der Postapartheid-Ära in Südafrika.
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2002: Imre Kertész
Der jüdisch-ungarische Auschwitz-Überlebende erhielt den Preis für sein Werk, in dem er "die fragile Erfahrung des Individuums gegen die barbarische Willkürlichkeit der Geschichte stellt". Kertész beschrieb in seinen Romanen das Grauen der Konzentrationslager. An seinem "Roman eines Schicksalslosen", eine der eindrucksvollsten Erzählungen über den Holocaust, arbeitete er über 13 Jahre.
Naipaul bekam den Preis für seine Erzählkunst, "in der er eine besonders sensible Wahrnehmung mit unbestechlicher Genauigkeit vereint, um uns zu zwingen, die Gegenwart unterdrückter Historien" zu erkennen. Der indisch-britische Schriftsteller hat die Freiheit des Individuums in einer im Niedergang begriffenen Gesellschaft zu seinem Thema gemacht, in verschiedenen Gegenden und Kulturen der Welt.
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2000: Gao Xingjian
Der erste Literatur-Nobelpreisträger des neuen Jahrtausends war ein Chinese, der seit 1987 in Paris lebt, als Schriftsteller, Dramatiker und Maler. Ausgezeichnet wurde er für "ein Werk von universeller Gültigkeit", das von "bittere Einsichten und sprachlichen Reichtum" gekennzeichnet sei und das dem chinesischen Roman und Schauspiel neue Wege eröffnet habe.
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"Seit ich lesen konnte, waren Bücher meine Begleiter, und Lesen war meine natürliche Beschäftigung außerhalb der Schule", hatte Ernaux bereits am Mittwoch (07.12.2022) in ihrer Nobellesung in der Schwedischen Akademie in Stockholm erzählt. Dieser Appetit sei von einer Mutter genährt worden, die es bevorzugt habe, dass sie lese statt nähe oder stricke. Die hohen Kosten von Büchern und das Misstrauen, mit denen sie an ihrer religiösen Schule betrachtet worden seien, hätten die Werke noch begehrenswerter für sie gemacht. Auf "gutes Schreiben" und "schöne Sätze" habe sie später verzichtet und stattdessen eine Sprache gewählt, die "Wut, Grobheit und sogar Spott" transportiere.
"Noch mehr Lust zum Schreiben"
Inwieweit der Nobelpreis ihre Arbeit beeinflussen werde, könne sie zwar nicht sagen, so Ernaux auf einer Pressekonferenz in der Stockholmer Altstadt am Vortag (06.12.2022). Aber "was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich noch mehr Lust zum Schreiben habe." Die Nobelpreis-Bekanntgabe Anfang Oktober habe sie überrumpelt. Es sei ein großer Schock gewesen, die Auszeichnung zu erhalten, aber auch eine Ehre. Für sie bedeute der Preis, dass nun mehr Menschen "an ihre Tür klopfen", um ihre Meinung zu verschiedenen Themen zu hören. Dies bedeute aber nicht, dass sie sich mehr der Politik widmen werde. "Ich muss sagen, dass ich vor allem weiterhin auf persönliche Weise schreiben möchte, und nicht Petitionen", so die Schriftstellerin.
Die französische Autorin wurde von der Schwedischen Akademie für ihren "Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Zwänge der persönlichen Erinnerung aufdeckt" geehrt. Annie Ernaux sieht in der Auszeichnung eine Aufforderung, ihren Kampf gegen Ungerechtigkeiten in der Welt fortzuführen. "Den Nobelpreis zu bekommen, ist für mich die Verantwortung weiterzumachen", hatte sie im Oktober gesagt. Auch verspüre sie die Verantwortung, offen zu sein für den Lauf der Welt.
Schwedische Akademie: "Literatur von bleibendem Wert"
Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, auf Deutsch erschienen unter anderem "Die Jahre", "Erinnerungen eines Mädchens" und "Das Ereignis". Ihr Weg zur Schriftstellerin sei lang und mühsam gewesen, erklärte die Akademie. Ernaux untersuche konsequent und aus verschiedenen Blickwinkeln Geschlechterrollen, Sprache und Klassenunterschiede. Mit ihrer kompromisslosen Arbeit habe sie Literatur von bleibendem Wert erschaffen.
Für den deutschen Literaturkritiker Denis Scheck war die 82-jährige Französin eine der europäischen Favoritinnen: "Sie ist der Leitstern für ganz viele Autoren, weil sie die Urmutter der Autofiktion ist", so Scheck gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Die Schriftstellerin setze sich mit Klassenschranken und somit auch mit hochpolitischen Fragen auseinander - aber eben nicht denjenigen, von denen man auf Seite eins einer Tageszeitung lese.
Ethnologin ihrer selbst
Annie Ernaux, geboren 1940 in der Normandie in bescheidenen Verhältnissen, und bezeichnet sich laut ihrem deutschen Verlag Suhrkamp als "Ethnologin ihrer selbst". Seit 1974 veröffentlicht sie Bücher, die vor allem autobiografisch geprägt sind. In den 1980er-Jahren gelang ihr der internationale Durchbruch. Immer wieder verfasste sie Werke wie "Die Jahre" (2018), die - weit über das Autobiografische hinaus - gesellschaftliche Entwicklungen abbilden.
Ernaux gilt eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit und hat bereits in der Vergangenheit zahlreiche Literaturpreise gewonnen, darunter den Prix Marguerite Duras, den Deutschen Hörbuchpreis oder den Würth-Preis für Europäische Literatur. 2019 stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2019.
Spekulationen in alle Richtungen
In alle Richtungen war im Vorfeld des Literaturnobelpreises spekuliert worden: Bekommt der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie den Preis, der kürzlich während eines Vortrags in den USA durch eine Messerattacke lebensgefährlich verletzt wurde? Oder geht er an eine Autorin oder einen Autor aus der Ukraine? Wird der Preis Margaret Atwood verliehen, der kanadischen Schriftstellerin, die in ihren Romanen, Kurzgeschichten und Essays immer wieder höchst erfolgreich gesellschaftlich relevante Themen verarbeitet? Oder Haruki Murakami, dem japanischen Meister der Beobachtung?
Auch die Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie oder der Kenianer Ngugi wa Thiong'o gehören zu den großen Stimmen der Weltliteratur, deren Werke in viele Sprachen übersetzt werden.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine beschäftigt in diesem Jahr die ganze Welt - auch die Schwedische Akademie. Die altehrwürdige Institution äußert sich in der Regel nicht zu politischen Themen, hat aber den russischen Einmarsch in die Ukraine schon früh aufs Schärfste verurteilt. Russlands Vorgehen gehe über die Politik hinaus und bedrohe die Weltordnung, die auf Frieden, Freiheit und Demokratie aufbaue, schrieb die Akademie Anfang März in einer Erklärung. Denis Scheck sagte dazu gegenüber der dpa, er hoffe doch sehr, dass man einen Friedensnobelpreis in die Ukraine schicke. "Aber den Literaturnobelpreis möchte ich nicht so politisiert sehen." Er solle nach ästhetischen Kriterien vergeben werden - nicht nach politischen.
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Kontroversen und Überraschungen
Kontroversen ging die Schwedische Akademie in den letzten Jahren nicht aus dem Weg. Die Vergabe des Preises an die US-Singer/Songwriter-Legende Bob Dylan 2016 war äußerst umstritten, die an den Österreicher Peter Handke, der wegen seiner Haltungen zum Jugoslawien-Konflikt kritisiert wurde, war es im Jahr 2019 mindestens genauso. Dazwischen erlebte die Akademie zudem einen großen Skandal um das mittlerweile ausgetretene Mitglied Katarina Frostenson und ihren wegen Vergewaltigung verurteilten Ehemann Jean-Claude Arnault, der weltweit für Aufmerksamkeit sorgte. Wegen des Skandals wurde im Jahr 2018 zunächst kein Literaturnobelpreis vergeben. 2019 folgte dann eine Doppel-Vergabe an die Polin Olga Tokarczuk als nachgeholte Preisträgerin für 2018 und besagten Peter Handke.
In den vergangenen Jahren überraschte die Akademie die Literaturwelt mit Preisträgern wie Louise Glück oder Abdulrazak Gurnah, die selbst vielen Literaturkennern nicht bekannt waren. Expertinnen und Experten rätselten daraufhin, ob 2022 nun eher wieder jemand Unbekanntes gewinnen würde oder nun erst recht einer der großen Namen, die schon lange auf der Liste stehen.
Raum für Interpretation
Das Ziel der Akademie sollte jedoch nicht die Überraschung sein. Der Preisstifter, der schwedische Chemiker und Erfinder Alfred Nobel, schrieb in seinem Testament, dass der Literaturpreis an jene Autorin oder jenen Autor gehen soll, der "das Ausgezeichnetste in idealistischer Richtung geschaffen hat". Diese Aussage bietet natürlich eine Menge Raum für Interpretation, daher gehen die Vorschläge, die aus aller Welt nach Stockholm gehen, in völlig unterschiedliche literarische, politische und gesellschaftliche Richtungen.
Kein Nobelpreis für Autor Stephen King?
26:06
Der Literaturnobelpreis kann übrigens nur an Lebende gehen. Verstirbt ein Preisträger zwischen Bekanntgabe im Oktober und der Vergabe des Preises im Dezember, erhält er oder sie die Ehrung posthum. Im Gegensatz zu den anderen Nobelpreisen geht es beim Literaturnobelpreis um das gesamte Lebenswerk einer Autorin oder eines Autors - nicht um einzelne herausragende Leistungen. Und er gilt als der bedeutendste unter allen Nobelpreisen.
Riten und Vergabepraxis
Für die Vergabe des Preises ist die Schwedische Akademie zuständig, die die Auswahl wiederum aus ihren Reihen an ein fünfköpfiges Nobelkomitee delegiert. 600 bis 700 ausgewählte Personen aus der ganzen Welt machen ab September des Vorjahres ihre Vorschläge, darunter bisherige Preisträgerinnen und Preisträger, Mitglieder der Schwedischen Akademie und vergleichbaren Institutionen, Uniprofessorinnen und -professoren für Literatur und Linguistik und Vorsitzende von Schriftstellerverbänden verschiedener Länder.
Dies ist die aktualisierte Version eines Textes vom 6. Oktober 2022.