Warum Annie Ernaux in der Kritik steht
12. Oktober 2022Gerade mal ein paar Tage ist es her, dass Annie Ernaux zur Literaturnobelpreisträgerin gekürt und ihr Werk allseits in den höchsten Tönen gelobt wurde. Jetzt sorgt sie erneut für Schlagzeilen, doch diesmal fällt ein Schatten auf ihren Namen: Von der "dunklen Seite" der Autorin spricht etwa die Boulevardzeitung "Bild", und das Nachrichtenmagazin "Spiegel" sieht Antisemitismusvorwürfe im Raum.
Sie alle beziehen sich auf einen Bericht der israelischen Zeitung "Jerusalem Post", der Annie Ernauxs Nähe zur israelfeindlichen Boykottbewegung "BDS" aufzeigt. Die drei Buchstaben stehen für "Boycott, Divestment and Sanctions" ("Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen"). Das erklärte Ziel: den israelischen Staat international unter Druck zu setzen, um die Besetzung der palästinensischen Gebiete zu beenden. BDS-Aktivisten werfen Israel Kolonialismus vor und vergleichen den Staat mit Südafrika in Zeiten der Apartheid. Daher versuchen sie, das Land wirtschaftlich, kulturell und politisch zu isolieren. Führende BDS-Vertreter sprechen Israel gar das Existenzrecht ab. Einer der prominentesten Unterstützer der Bewegung ist der Musiker Roger Waters.
Bei jüdischen Organisationen sorgt die Vergabe des Nobelpreises an die Französin für Kopfschütteln: Es sei "ein Rückschlag für den weltweiten Kampf gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit", sagte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur.
Ihre überzeugte Unterstützung der BDS-Bewegung und die öffentliche Dämonisierung Israels als "Apartheidstaat" seien "keine Ausrutscher einer politisch unbedachten Schriftstellerin, sondern Ausweis einer klar antisemitischen Haltung", so Schuster weiter. "Das Signal, das von diesem Nobelpreis ausgeht, ist für Jüdinnen und Juden auch in Deutschland gerade nach der skandalösen documenta äußerst verstörend."
Ernaux unterstützt die BDS-Positionen
Im Jahr 2018, so berichtet die "Jerusalem Post", habe Ernaux zusammen mit etwa 80 anderen Künstlerinnen und Künstlern ein Papier unterschrieben, in dem beklagt wurde, der Staat Israel werde in Frankreich viel zu positiv und beschönigend dargestellt. "Es ist eine moralische Verpflichtung für jeden Menschen mit Gewissen, die Normalisierung der Beziehungen zum Staat Israel abzulehnen", heißt es unter anderem in diesem Brief.
Wie über 100 weitere französische Künstlerinnen und Künstler setzte Ernaux im Mai 2019 ihren Namen zudem unter einen Brief, der zum Boykott des Eurovision Song Contest in Tel Aviv aufrief. Die französischen Fernsehsender wurden darin aufgefordert, den Gesangswettbewerb nicht zu übertragen.
Und schließlich habe Ernaux dann 2021 auch ein Schreiben mit dem Titel "Brief gegen die Apartheid" unterzeichnet, in dem Israel mit dem früheren Apartheid-Regime in Südafrika verglichen wird. Die Politik Israels im Gazastreifen wird dort angeprangert, ebenso israelische Angriffe auf Araber und Palästinenser. Die Raketenangriffe auf Israel, die zuvor von israelischen Arabern ausgegangen seien, wurden dagegen laut "Jerusalem Post" in dem Schreiben nicht erwähnt.
BDS weit verbreitet
Ernauxs politische Ansichten sind in Frankreich kein Geheimnis, auch nicht ihre Nähe zum BDS, so Barbara Vinken, Professorin für französische Literatur an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. In Frankreich akzeptiere man ihre Haltung als Meinungsfreiheit. "Aber man muss vielleicht auch mal überlegen, dass in anderen Ländern der BDS deutlich breiter unterstützt wird als bei uns, also auch in der intellektuellen Schicht. Dass wir in Deutschland da eine Sonderstellung einnehmen aufgrund unserer Geschichte - zurecht. Das ist ja ganz klar, dass wir für dieses Thema extrem sensibilisiert sind."
In der "Jerusalem Post" wird Annie Ernaux auch vorgeworfen, dass sie sich für die Begnadigung von Georges Abdallah, einem libanesischen Kommunisten, der in Frankreich einen amerikanischen Offizier und einen israelischen Diplomaten ermordet hat, stark gemacht habe: Im BDS-Schreiben, das auch ihre Unterschrift trägt, werden die Ermordeten als "Mossad und CIA-Agent" bezeichnet und Abdallah als "dem palästinensischen Volk im Kampf gegen die Kolonialisierung verpflichtet".
Aber nicht nur Ernaux, auch eine französisch-jüdische Union für Frieden habe sich damals für Abdallah eingesetzt, führt Vinken im Deutschlandfunk aus. "Das waren durchaus Aktivitäten, die von einer wirklich breiten und auch jüdischen Öffentlichkeit getragen worden sind."
"Kein Anhaltspunkt für Antisemitismus in ihrem Werk"
Aus Vinkens Sicht verurteilt Ernaux also die israelische Politik in den Palästinensergebieten, im Prinzip stehe sie damit für "eine sehr konsensfähige Meinung". Es gebe aber keinen Grund, der Autorin Antisemitismus anzulasten. "Ich glaube, dass das auch wirklich falsch ist. Also es gibt keinen Anhaltspunkt in ihrem Werk, der irgendwie für Antisemitismus spricht", so Barbara Vinken. "Aus einem Statement gegen eine bestimmte Politik [...] ein 'Todesurteil' (Vinken bezieht sich auf die negative Berichterstattung der letzten Tage, Anm. d. Red.) zu machen, das finde ich wirklich unzulässig."
Für die Berliner Schriftstellerin Mirna Funk liegt die Sache etwas anders. Die Jüdin sieht den BDS als eindeutig antisemitisch an. "Und ich finde auch Personen, die den BDS unterstützen, politisch gefährlich", sagt sie gegenüber der DW. Mit dieser Einschätzung ist sie nicht allein. "Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten - Antisemitismus bekämpfen", so verurteilte der deutsche Bundestag im Mai 2019 die Boykottkampagne.
Wer einen Nobelpreis bekommt und ins öffentliche Rampenlicht gerät, muss sich also gefallen lassen, dass man sich mit seiner politischen Position beschäftigt, findet Funk. "Das hat man bei Handke ja genauso gemacht." (Der österreichische Schriftsteller und Nobelpreisträger 2019 hatte sich im Jugoslawien-Konflikt stark mit Serbien solidarisiert und nach Ansicht von Kritikern die von Serben begangenen Kriegsverbrechen bagatellisiert, Anm. d. Redaktion.)
Die Ideologie von Unterdrückern und Unterdrückten
Wie so viele BDS-Anhängerinnen und -Anhänger stammt Annie Ernaux aus kleinbürgerlichem Milieu. Sie wuchs in einem kleinen Ort in der Normandie auf, ihre Eltern betrieben einen Dorfladen. Annie war die erste in der Familie, die ein Studium absolvierte. Bis zu ihrer Pensionierung arbeitete sie als Lehrerin - und schrieb nebenher autobiografisch über ihr Leben: über das Kleinbürgermilieu, die ungewollte Schwangerschaft und die - damals verbotene - Abtreibung, ihre verstorbene Schwester, die sie nie kennenlernte. Ihr politisches Herz schlug immer links. "Und in der linken Ideologie geht man davon aus, dass jede Beziehung, ob jetzt persönlich oder auch politisch, auf Machtverhältnissen basiert zwischen Unterdrücker und Unterdrückten", sagt Mirna Funk. Das Problem zwischen den Palästinensern und den Israelis habe man als klassisches Problem der Unterdrückten und des Unterdrückers identifiziert. "Von palästinensischer Seite hat man es seit Jahrzehnten verstanden, die Palästinenser als den Underdog zu stilisieren. Und das hat in der linken Welt wunderbar funktioniert."
Boykott ist keine Lösung
Lesen würde Mirna Funk die Bücher der Französin trotzdem. "Auch wenn eine Ernaux für Boykott ist, so bin ich nicht für einen Boykott von Ernaux. Ich finde, dass es ganz, ganz wichtig ist, die künstlerische Leistung vom Künstler zu trennen."
Ernaux sei zwar BDS-Anhängerin, aber es gebe einfach einen Unterschied, ob man als Künstler Kunst produziert, die sich unabhängig von der politischen Position erkennen lässt oder ob ein Künstler sozusagen Propaganda-Materialien produziert. "Ernaux hat keine Bücher zu Israelis und Zionisten und Juden geschrieben, sondern aus ihrer eigenen Lebenswelt heraus berichtet. Trotzdem muss natürlich ausgehalten werden, dass sie politische Positionen vertritt, die auch kritikwürdig sind. Aber das ist das Mehrdimensionale eines jeden Menschen. Und ich glaube, dass es ganz wichtig ist, diesen Widerspruch auszuhalten."
Denn genau wie Annie Ernaux für den BDS eintritt, lobt sie auch den Mut der Iranerinnen, die derzeit gegen ihr Regime aufbegehren, und verurteilt Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Auszeichnung mit dem Nobelpreis sehe sie als Aufforderung, ihren Kampf gegen Ungerechtigkeiten in der Welt fortzuführen, so die 82-Jährige. "Ich verspüre die Verantwortung, offen zu sein für den Lauf der Welt." Man darf also gespannt sein, was die frischgekürte Literaturnobelpreisträgerin bei der offiziellen Preisvergabe im Dezember in Stockholm noch alles zu sagen hat - auch zu Israel.
Christoph Heubner, geschäftsführender Vizepräsident des Auschwitz Komitees, erwartet dann jedenfalls klare Worte von ihr: "Es ist mehr als schade, wenn sich eine große Schriftstellerin in der gehässigen und einseitigen Welt des Israel-Hasses und des damit einhergehenden Antisemitismus verliert und so ihr literarisches Werk konterkariert", sagte er der Deutschen Presseagentur. Bei ihrer Nobelpreisrede habe sie die Gelegenheit, sich zu erklären und die Grenzen ihrer Vorurteile zu überschreiten. "Das ist sie ihren Leserinnen und Lesern, nicht nur in Israel, schuldig."
Dies ist die aktualisierte Fassung eines Artikels vom 11.10.2022, in der die Reaktionen jüdischer Organisationen aufgenommen wurden.