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Literatur

Nobelpreisträgerin Alexijewitsch wird 70

Gaby Reucher | Sabine Peschel mit dpa
30. Mai 2018

Swetlana Alexijewitsch gilt als Chronistin des Zerfalls der Sowjetunion. Für ihre Collagen, die das Leid der Menschen dokumentieren, bekam sie 2015 den Literaturnobelpreis. Am 31. Mai feiert sie ihren 70. Geburtstag.

Berlin Bundespressekonferenz Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch
Bild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Tausende Lebensgeschichten hat die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch gesammelt und in großen Collagen zusammengefügt. Damit ist die 70 Jahre alte Weißrussin zur derzeit bedeutendsten literarischen Stimme aus Osteuropa geworden.

Bislang hat sie hauptsächlich über bedrückende Themen geschrieben: über Frauen im Krieg, über Afghanistan und Tschernobyl. In ihrem nächsten Buch will die Literaturnobelpreisträgerin von 2015 der Liebe nachspüren. "In meinen früheren Büchern stand die Liebe nicht im Zentrum", sagte die weißrussische Schriftstellerin in einem Gespräch, das die Zeitschrift "Osteuropa" zu ihrem Geburtstag abgedruckt hat. 

Alexijewitsch gilt nicht nur als große Chronistin des Zerfalls der Sowjetunion, sondern auch als mutige Aufklärerin. Mit ihrer Vorgehensweise hat sie eine eigene literarische Gattung geschaffen - den dokumentarischen "Roman in Stimmen". Ihre Bücher, in denen sie die Geschichte der ehemaligen Sowjetunion aufarbeitet, basieren auf zahlreichen Interviews mit Zeugen. Niemand sonst hat den Zerfall der UdSSR so dokumentiert wie sie. "Es geht um die Stimmen der Menschen und um Details. Ich versuche, in solchen Gesprächen den Zeitgeist einzufangen. Nur so kann ich das Bild der Vergangenheit vervollständigen", erklärte Alexijewitsch 2014 in einem Interview mit der Deutschen Welle.

In drei Staaten zu Hause

Die Lebensgeschichte der Autorin verbindet die drei ostslawischen Staaten Ukraine, Weißrussland und Russland. Alexijewitsch wurde 1948 in Stanislaw (heute Iwano-Frankiwsk) in der Ukraine geboren. In Weißrussland arbeitete sie als Lehrerin, Journalistin und schließlich als Schriftstellerin. Ihre Bücher schreibt sie auf Russisch. Als Gegnerin von Diktatur jeder Art hat sie den autoritären weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko kritisiert, der der berühmten Bürgerin 2015 erst spät und unwillig zum Nobelpreis gratulierte. Immerhin schützt sie der Weltruhm vor staatlichen Übergriffen. Russland hat den Preis an eine russischsprachige Schriftstellerin wohlwollend zur Kenntnis genommen. Doch ihre Warnungen vor einem zunehmend unfreien und aggressiven Kurs des Landes unter Präsident Wladimir Putin werden offiziell ignoriert. 

Strahlende Preisträgerin: Swetlana Alexijewitsch bei der Nobelpreisverleihung 2015Bild: Reuters/M. Ericsson

Swetlana Alexijewitsch war erst die 14. Frau, die mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Ihre Bücher finden sich in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Nach langen Aufenthalten im Ausland lebt sie seit 2010 wieder in der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Schon als Reporterin hatte sie sich einen Namen gemacht. Sie arbeitete als Korrespondentin eines Literaturmagazins. In ihren Reportagen und Essays entwickelte sie ihren besonderen literarischen Stil: Sie führte Interviews und verdichtete diese zu emotionalen Collagen des tagtäglichen Lebens.

Romane aus den Stimmen der einfachen Menschen

Diese Methode wandte sie erstmals in ihrem Buch "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" an, das sie 1983 veröffentlichte. Darin thematisiert sie das Schicksal sowjetischer Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg und demontiert mit mehreren hundert Interviews den sowjetischen Heldenmythos vom "Großen Vaterländischen Krieg". Internationale Bekanntheit erlangte sie 1997 durch die Veröffentlichung von "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft". Das Buch ist ein psychologisches Porträt der betroffenen Menschen und gibt erschütternde Einblicke in das Ausmaß der Katastrophe.

Der große Durchbruch: "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft"Bild: DW/S. Englert

Zu ihren bekanntesten Romanen zählt "Zinkjungen", eine Dokumentation des Krieges der Sowjetunion in Afghanistan, die auf Russisch 1989 erschien (dt. 1992). Für diese Collage aus Gesprächen mit Soldaten, deren Müttern, Frauen und Witwen, musste sie sich mehrfach in Minsk vor Gericht verantworten.

Ihren Roman "Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus" würdigte der Stiftungsrat des Deutschen Buchhandels mit dem Friedenspreis 2013. Darin erzählen Menschen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion von ihren unerfüllten Hoffnungen auf Freiheit nach dem Auseinanderbrechen des Staatenblocks. Für die Recherche zu diesem Buch ging Alexijewitsch 2011, nach 16-jährigem Exil in Paris, Berlin und anderen Orten in ihr Heimatland zurück, um Material zu sammeln. "Um solche Bücher wie ich zu schreiben, muss man vor Ort sein", erklärte die Autorin im DW-Interview.

"Secondhand-Zeit" erhielt den Friedenspreis des Deutschen BuchhandelsBild: Reuters/F. Bensch

Unbequeme Wahrheiten 

In Weißrussland durften ihre Bücher nicht veröffentlicht werden, erzählte Alexijewitsch. Sie erschienen aber in Russland und kamen so auch nach Weißrussland. "Eine Zeit lang gab es sie nur unter dem Ladentisch, aber jetzt kann man sie auch oft so bekommen. Und die Menschen lesen sie auch." Seit dem Nobelpreis dürfen offiziell höhere Schulklassen mit ihren Texten arbeiten.

Auch mit dem 2014 in einer vierten Ausgabe auf Deutsch erschienenen Werk "Die letzten Zeugen" lag Alexijewitsch quer zu dem, was man in ihrer Heimat veröffentlichen darf. Jahrelang hatte sie Zeitzeugen interviewt, um die Erinnerung von Weißrussen, die als Kind den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, zu dokumentieren und diese seit 1985 (dt. 1989) in immer wieder veränderten und erweiterten Ausgaben veröffentlicht.

Ehre für eine mutige Autorin

Den Literaturnobelpreis empfand sie 2015 als große Ehre, denn damit stehe sie in einer Reihe mit großen Schriftstellern wie Boris Pasternak. "Freiheit erfordert viel Arbeit", sagte Swetlana Alexijewitsch im DW-Interview. Der Nobelpreis hat es ihr ermöglicht, ihre Arbeit für die verloren gegangene Menschlichkeit fortzusetzen. Dabei hat sie die Zeit seit dem Nobelpreis tatsächlich viel Kraft gekostet. Alexijewitsch sei viel gereist, habe viele Interviews gegeben und sei gesundheitlich angeschlagen, sagt ihre Agentin Galina Dursthoff. "Sie kommt kaum zu dem, was sie am liebsten tut: in ihrer Datscha bei Minsk zu sitzen und zu schreiben". Alexijewitsch komponiert auch das kommende Buch über die Liebe als Collage in der bewährten dokumentarisch-literarischen Schreibweise aus Einzelstimmen.

Für das neue Thema suche die Autorin nach einem "neuen Ton", sagt ihre Agentin. Trotzdem scheint auch die Beschäftigung mit der Liebe auf einen bitteren Mangel zurückzugehen, den die Schriftstellerin bei ihren zahllosen Begegnungen mit Menschen erkannt hat. In Russland gehe es im Leben wie in der Literatur selten um die Liebe, sagt sie: "Sogar in unserer Sprache... im Russischen, ist die Sprache der Liebe nicht entwickelt. Sie ist nicht auf dieselbe Weise präsent wie in der französischen Literatur."

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