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Live - im Sturm der Euphorie

Alexander Kudascheff29. April 2013

Alexander Kudascheff berichtete von der Einheitsfeier in Berlin.

Porträt Alexander Kudascheff - Copyright: imago/Kai Bienert
Alexander KudascheffBild: imago/Kai Bienert

Ich war am 2. Oktober wieder in Berlin angekommen - nach einer Rundreise über Nürnberg und Hamburg, wo die Vereinigungsparteitage der SPD, FDP und der CDU stattgefunden hatten. Nun hieß es für uns, in wenigen Stunden alles aufzubauen, um auf Sendung gehen zu können. Mein Kollege Timo Langer hatte einen Stellplatz für den Übertragungswagen am Reichstag bekommen, dort hatten wir schon am 18. März bei den ersten freien Wahlen gestanden. Wir mussten also nur die Funkstrecke zum Reportermikrofon herstellen. Dazu gab es einen Rucksack, den ich tragen sollte, der von Lothar Jöde, dem Sendetechniker, den ganzen Abend gesichert wurde.

"Um Mitternacht bitte eine knackige Nachrichtenminute!"

Wir stellten uns vor dem Reichstag auf. Es wurde Nachmittag, früher Abend. Gegen halb sechs gab es die ersten Live-Schalten. Ab 18 Uhr waren wir stündlich auf Sendung. Ich stand auf einem Malertisch, um einen besseren Überblick zu haben. Um ums sammelten sich die Zuschauer, die auf den magischen Augenblick warteten, auf Mitternacht, auf die Wiedervereinigung. Es wurde voll und voller, bald überfüllt. Und ich berichtete und berichtete - live, ohne Handy, ohne Zugang zu Internet und Agenturen. Im Übertragungswagen saß Timo Langer und gab über ein Netztelefon Nachrichten, Bitten, Informationen an mich weiter.

Es ging auf Mitternacht zu. Die Stimmung wurde gespannter, die Nervosität aller stieg. Dieter Wünsch, der Leiter des deutschen Programms, gab die Anweisung: "Wir brauchen um Mitternacht eine knackige Nachrichtenminute, die die ganze Nacht alle Nachrichten und alle Funkjournal-Sendungen einleiten kann!"

Jubelnde Menschenmassen feiern die deutsche Einheit vor dem Berliner ReichstagBild: picture-alliance/dpa

Balance-Akt auf dem Malertisch

Dann kam Bewegung in die Menge: Zu Tausenden, zu Zehntausenden strömten die Menschen nach vorne, wollten bessere Plätze ergattern, wollten Helmut Kohl, Willy Brandt, Richard von Weizsäcker aus der Nähe sehen. Und ich stand wie ein allein gelassener Kapitän auf meinem Malertisch, mit Lothar Jöde im Rücken - Gott sei Dank! Denn auf einen Schlag verloren plötzlich alle um mich herum die letzten Hemmungen, die ersten sprangen auf den Malertisch, andere folgten, der Tisch begann zu ächzen, sie schoben von hinten - und ich ging auf Sendung, zehn Minuten vor zwölf. Lothar Jöde verteidigte verbissen, hartnäckig, erfolgreich meinen Funkrucksack. Und ich balancierte auf meinen Fersen an der Spitze des Tisches und redete und redete und redete, bis die Zeremonie begann. Und redete weiter und redete und kämpfte, bis kurz vor eins das Kommando kam: "Um eins sind Sie wieder dran!" Dann stand ich endlich wieder mit Lothar Jöde zu zweit "allein" auf unserem Tisch - abgekämpft aber gut gelaunt, im sicheren Gefühl, ach, im sicheren Wissen: Du hast eine historische Stunde für die Deutsche Welle weltweit übertragen!

Da tauchte aus dem Nichts der britische Popsänger Chris de Burgh auf und wollte von mir wissen, wie er in den Reichstag komme, er habe eine Einladung. Na, das wusste ich auch nicht, denn den Reichstag hatte ich ja bis dahin nur aus der Ferne gesehen.

Immer live dabei

Und dann feierten wir - Timo Langer, Lothar Jöde und ich - zu dritt die Wiedervereinigung, die ich von Anfang an hatte hautnah miterleben dürfen: von den ersten Montagsdemonstrationen in Leipzig über den Fall der Mauer, Willy Brandts Reisen nach Gotha, Eisenach und Erfurt, die Gründung neuer Parteien, die ersten freien Volkskammerwahlen, den Beitrittsbeschluss bis hin zur Einheitsfeier. Ja, ich war dabei, als Geschichte geschrieben wurde - dabei für die Deutsche Welle.

Ein Jahr vor der Wiedervereinigung fiel die Berliner MauerBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb