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Politik

Freiheit, Gleichheit und Mitgefühl

Kommentarbild Lizzie Doron PROVISORISCH NUR APP
Lizzie Doron
7. September 2017

Als Israelin, deren Eltern Überlebende des Holocaust waren, hat man eine komplexe Beziehung zu Deutschland. Doch aus dem Synonym für die Hölle ist heute ein Sehnsuchtsort für viele geworden, meint die Schriftstellerin.

"Wird Merkel also wiedergewählt?", fragt mich mein Freund, ein Buchhändler in Tel Aviv, als wir in einer Ecke seines Ladens bei einer Tasse Kaffee zusammensitzen.

"Was denkst du?", will er wissen, ohne auf weitere Details einzugehen. "Die Flüchtlinge, was denkst du über die Flüchtlinge?"

Ich zucke zusammen - Flüchtlinge sind ein Thema, das meine Seele berührt.

"Und wenn du Deutsche wärst, wen würdest du wählen?" beharrt er.

"Aber ich bin keine Deutsche", sage ich ihm.

Das Deutschland meiner Kindheit

Deutschland und ich, wir haben eine lange und komplexe Beziehung miteinander. In den 1950er-Jahren als Kind von Holocaust-Überlebenden im Staat Israel geboren, war Deutschland in meinem Leben von Geburt an immer präsent. Die Leute sagten, sie kämen aus der Hölle. Und diese Hölle war Deutschland.

Jegliches Produkt mit dem Aufdruck "Made in Germany" wurde sofort aus unserem Haus hinausgeworfen und sollte vom Erdboden verschlungen werden. Bei meinen Freunden zuhause war es genauso. Deutsch war eine verbotene Sprache und nach Deutschland zu reisen, stand damals ganz oben auf der Liste der Tabus. Trotzdem wurde meine Kindheit vom seltsamen Geflüster meiner Mutter begleitet. Das Geheimnis aller Geheimnisse: "Deutschland kennt auch andere Zeiten", "Deutschland ist eine Wiege der Kultur", "Nicht alle Deutschen sind schlecht", "Deutschland ist der Ort, an dem ich immer leben wollte."

Sie schaffte es damit, mich zu verwirren und zu nerven.

"Aber ich habe doch ein Land", entgegnete ich ihr wütend.

"Zwei sind besser, und du brauchst zwei Heimats", lautete dann immer ihre Antwort.

Die Neunziger Jahre

Meine Mutter lebt nicht mehr. Viele der Menschen, mit denen ich als Kind aufgewachsen bin, sind inzwischen verstorben. Aus meinen Kindheitserlebnissen und Erinnerungen, meiner Lebensgeschichte, ist eine Serie von Büchern entstanden. Nachdem mein erstes Buch herauskam, war es ein deutscher Verleger, der als erster entschied, es zu übersetzen.

Danach war das Tabu gebrochen. Ich reiste nach Deutschland.

Ich kam dort mit Angst und Sorge hin. Schritt für Schritt und vorsichtig baute ich Beziehungen zu vielen Deutschen der zweiten und dritten Generation auf, die zerrissen waren von Trauma, Schuld und Selbstreflexion.

Mit jedem weiteren Buch, das ich veröffentlichte, fielen die Mauern der Furcht.

Ein langsamer, schwieriger und qualvoller Prozess der Wandlung begann sich in mir zu entwickeln. Irgendwann war ich bereit, den Lebensgeschichten anderer Menschen zuzuhören.

Später begegnete ich dann Palästinensern. Die zwischenmenschlichen Beziehungen, die wir aufbauten und die Einblicke, die ich gewann, lieferten mir das Material für meine jüngsten beiden Bücher. Zu meiner Überraschung lehnten israelische Verleger diese Bücher ab. Letztendlich wurden sie zuerst in Deutschland verlegt.

Seither lebe ich in beiden Welten, in Israel und in Deutschland. Ich habe gelernt, mit den Problemen umzugehen, die entstehen, wenn ich mein Leben in einer Sprache manage, die ich nicht fließend spreche. Und das innerhalb der kurzen Zeit, die mir mein Aufenthalt jeweils erlaubt.

Wenn ich nun auf die komplexen und sich entwickelnden Beziehungen zwischen Deutschen und Ausländern blicke, die wirtschaftlichen Veränderungen beobachte und die sozialen Unruhen, die sie auslösen, dann beschleicht mich ein beunruhigendes Gefühl. Und an jenen Tagen, an denen Neonazis protestieren, entdecke ich die tief sitzende Angst in mir.

"Ich denke nicht, dass ich hier leben könnte", sage ich zu mir selbst.

Die Wahl 2017

"Ich hoffe nur, dass die Rechten nicht an die Macht kommen", überrasche ich meinen Freund, nachdem wir bereits in ein Gespräch über den verregneten Sommer 2017 versunken waren, der sich geweigert hatte in Berlin anzukommen.

"Und was ist mit den Linken? Auch Linksextremisten produzieren Chaos", sagt er unsicher.

Irgendwie gelingt es uns dann, wieder zum Thema Wahl zurück zu gelangen, das die ganze Zeit über uns schwebte. Als wollte er die Lage beruhigen, fügt mein Freund hinzu: „Momentan sind das noch Randgruppen in Deutschland."

Danach schweigen wir für einige Momente.

Mein Deutschland heute

In jüngster Zeit ist mein Freundeskreis in Deutschland gewachsen. Ich schätze mich glücklich, neue Freunde zu haben, darunter auch ein syrischer Künstler, ein irakischer Autor, ein tunesischer Dramatiker, ein iranischer Architekt und ein griechischer Koch. An jedem Tag, den ich in Deutschland verbringe, treffe ich Menschen und höre Geschichten, auf die ich nur hier stoßen kann. Ich denke an die Tatsache, dass mein Sohn, der als Künstler nach Deutschland kam, hier auch seinen Platz gefunden hat. Und meine Tochter, die mit ihrer Partnerin in Israel lebt, mir sagte, dass sie in Deutschland heiraten werden, weil es hier erlaubt ist.

"Vier Mal hintereinander Merkel also?", fragt er mich.

"Es ist das Privileg von Gästen, deshalb kein Aufhebens zu machen", antworte ich.

"Weißt du", sage ich ihm, "wir müssen heute nur an Amerika denken oder sogar Großbritannien, Ungarn, Polen und Israel (Gott bewahre). Die Türkei, Russland, Nordkorea, Syrien - und die Liste lässt sich fortführen." Ich rassele die Liste in einem einzigen Atemzug herunter.

"Derzeit weht in deinem Land ein Wind der Toleranz, der Deutschland zu einem Sehnsuchtsort macht."

Er lächelt.

"Es scheint, als wäre dein Wunsch wahr geworden. Letztendlich kennen wir - du genauso wie ich - nur Menschen, die in derselben Blase leben, wie wir."

"Die Ära der Ideologie um uns herum bröckelt. Genug mit Kapitalismus, Kommunismus, Nationalismus, Rassismus und Religion. Die Menschen kommen aus vielen Orten und aus unterschiedlichen Umständen in den Schutzraum Deutschland. Sie wollen in Gleichheit und Freiheit, mit Schutz und Mitgefühl leben. Dieser Sehnsuchtsort kann der Auftakt sein, Mauern zu durchbrechen."

Ich sah seinen überraschten skeptischen und Blick.

"Aber du hast hier doch bereits eine Mauer eingerissen", erinnerte ich ihn, "Das war vermutlich der Beginn des Prozesses, den wir nun durchlaufen."

Kunden kamen in den Buchladen. Wir mussten unsere Unterhaltung beenden. Was ich geäußert hatte, überraschte mich selbst.

"Wen würdest du also wählen?" lässt er nicht locker.

"Vorerst auf jeden Fall Deutschland", sage ich.

Mutters Vermächtnis

"Du brauchst zwei Heimatländer", hörte ich die Stimme meiner Mutter, als ich den Laden verließ. Plötzlich wurde mir klar, dass es meine Mutter war, die mich erstmals mit einem anderen Narrativ in Kontakt brachte, die als erste Mauern einriss.

"Ja", antwortete ich.

Ich hatte das Gefühl, sie zufrieden zu stellen in dem Moment. Ich vermute, sie hat gelächelt.

 

Die israelische Schriftstellerin Lizzie Doron wurde 1953 in Tel Aviv geboren. Sie hat sieben Bücher geschrieben und diverse internationale Preise für ihr Werk gewonnen. Die beiden Bücher, die als erstes in Deutschland erschienen sind: "Who the Fuck Is Kafka", erschienen bei DTV 2014, sowie "Sweet Occupation", ebenfalls bei DTV in diesem Jahr 2017 verlegt.

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