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Politik

"Noch immer nicht bereit aufzugeben"

Kommentarbild Lizzie Doron PROVISORISCH NUR APP
Lizzie Doron
14. Mai 2018

Sie ist kaum jünger als ihr Heimatland: Die Schriftstellerin Lizzie Doron dokumentiert ihr zerrissenes Verhältnis zum israelischen Staat und dessen bewegter Geschichte - eine Geschichte, die auch ihre eigene ist.

Ich wurde 1953 in Israel geboren, als einzige Tochter einer Holocaust-Überlebenden.

Im Mai 1948, fünf Jahre vor mir, wurde mein Land geboren.

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Unabhängigkeitstag 1958: Ich bin fünf Jahre alt, Israel ist zehn.

Meine Mutter zieht mir einen blauen Rock und eine weiße Bluse an, drückt mir eine Fahne in die Hand und befestigt eine Anstecknadel mit dem Symbol des siebenarmigen Leuchters an meiner Bluse. Man hat sie gebeten, mich anlässlich des Unabhängigkeitstags so in den Kindergarten zu schicken. Während wir Hand in Hand zur Zeremonie laufen, sehe ich meine Mutter weinen.

Inmitten der Sirenen, Reden, Lieder und Tänze spüre ich trotz meines jungen Alters, dass an diesem Tag etwas besonderes gefeiert wird. Ich bin stolz und glücklich, ohne die ganze Geschichte zu kennen.

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1960: Israels zwölfter Unabhängigkeitstag, ich bin sieben Jahre alt.

Ich nehme mit meinen Klassenkameraden an der Zeremonie teil. Ich sehe meine Mutter bei den anderen Eltern stehen, sie lächelt mir zu.

Mit klarer, lauter Stimme lese ich Teile der Unabhängigkeitserklärung vor.

Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten.

Wir bieten allen unseren Nachbarstaaten und ihren Völkern die Hand zum Frieden und guter Nachbarschaft und rufen zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe mit dem selbstständigen jüdischen Volk in seiner Heimat auf...

Auch in diesem Moment verstehe ich nicht jedes Wort, geschweige denn die gesamte Bedeutung des Textes, aber noch heute kann ich ihn lückenlos und voller Emotionen zitieren.

Bekenntnis zu Israel heute - ein Mädchen in Tel Aviv 2018Bild: Reuters/A. Cohen

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Risse in der Utopie

1967: Israel ist 19, ich bin 14.

Unser Sieg im Sechstagekrieg zeigt, dass wir stark sein müssen und bereit, unser Leben für dieses Land zu opfern. Nur so können wir mit Hilfe der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte alle unsere Feinde besiegen. Ausdrücke wie "Heldenhafte Soldaten" und "Für unser Land sterben" werden Teil meiner Identität. Meine Überzeugung, dass unser Weg der richtige ist, verfestigt sich.

In der Zeremonie zu Ehren der gefallenen Soldaten werde ich ausgewählt, den Yzkor (jüdisches Gebet zum Gedenken an die Toten) zu sprechen.

Möge der israelische Staat sich seiner Söhne und Töchter erinnern, der Soldaten der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte… Mögen die siegreichen Gefallenen Israels über Generationen hinweg in den Herzen der Israelis weiterleben.

Meine Mutter bleibt der Zeremonie fern - aus Angst vor ihrer Freude über den Sieg.

"Was Kriege angeht, bin ich Expertin", erklärt sie. "Es ist gefährlich, eine Armee rückhaltlos zu unterstützen."

Aber ich höre nicht auf sie, sondern stürme aus dem Haus und knalle die Tür hinter mir zu.

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1971: Israel ist 23, ich bin 18.

Ich bin Soldatin, leiste meinen Militärdienst auf den Golanhöhen und habe einen Freund. Einen Offizier in den Israelischen Verteidigungsstreitkräften.

Ich habe das Glück, mit einer Waffe in der einen und einem landwirtschaftlichen Gerät in der anderen Hand den israelischen Traum leben zu können. Mit meinen Freunden baue ich mir im Kibbuz (ländliche Kollektivsiedlung in Israel), dieser israelischsten aller Festungen, eine gemeinsame Zukunft auf.

In diesen Jahren distanziere ich mich von meiner Mutter.

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Im Jom-Kippur-Krieg 1973: Israels Verteidigungsminister Mosche Dajan (l) mit dem damaligen Generalmajor und späteren Ministerpräsidenten Ariel Scharon (r)Bild: picture-alliance/dpa

1973: Israel ist 25, Ich bin 20.

Am 6. Oktober bricht der Jom-Kippur-Krieg aus. Syrische Flugzeuge bombardieren mein Haus auf den Golanhöhen, sieben meiner Freunde sterben.

Ein einziger Augenblick zerstört meinen Traum, meinen Glauben, meinen Weg.

"Vielleicht verstehst du jetzt, dass es im Krieg keine Sieger gibt, nur Opfer auf beiden Seiten", sagt meine Mutter, als ich gebrochen nach Tel Aviv zurückkehre.

Mein Land und ich, wir sind nicht mehr das, was wir einmal waren.

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"Ich habe israelische Träume"

1977: Das Land ist 29, ich bin 24.

In Israel übernimmt der konservative Likud die Regierungsverantwortung von den Sozialdemokraten.

"Wende", verkündet der Nachrichtensprecher.

Auch ich erlebe eine Wende. Ich wohne wieder in Tel Aviv, versuche, meine Wunden zu heilen, und flüchte mich in mein Studium.

Die Beziehung zu meiner Mutter ist immer noch zerbrechlich, aber manchmal, wenn wir uns treffen, spricht sie über die Wälder und Flüsse und den Zauber des Schnees in einem anderen Land.

Ihr Herz ist zu ihren Kindheitserinnerungen zurückgekehrt, denke ich.

Immer wieder erzähle ich ihr und mir selbst, dass Israel ein junges Land ist, das noch in den Kinderschuhen steckt. Ein Land, das wächst, das Städte, Straßen, Parks und wissenschaftliche Institute baut. Die hebräische Sprache floriert, immer mehr Juden aus der Diaspora kommen zu uns, in die Heimat der jüdischen Nation.

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Ägyptens Präsident Anwar el-Sadat während einer Rede 1979 - hier allerdings nicht vor der KnessetBild: Getty Images/A.Mohamed

1979: Der Staat ist 31 und ich bin 26.

Ägyptens Präsident Anwar el-Sadat besucht die Knesset.

Für einen Moment wächst die Hoffnung auf Frieden zwischen uns und der arabischen Welt.

Meine Mutter seufzt erleichtert, besteht aber darauf, dass ich zwei Heimaten haben muss.

Das nervt.

Ich bin eine in Israel geborene Tzabar (Jüdin, die in Israel geboren wurde), ich habe israelische Träume.

Sie wird es nie verstehen.

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"Nur die Blonden überleben"

1982: Das Land ist 34 und ich bin 29.

Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder.

Meine Familie und meine Karriere sind mein Lebensmittelpunkt.

In diesem Jahr bricht vor dem Hintergrund von Terrorangriffen und einer wachsenden Zahl an Organisationen, die dem Staat Israel seine Existenz absprechen, der erste Libanonkrieg aus. Von meinem Blickwinkel aus betrachtet findet der Krieg im Norden statt, in Tel Aviv geht das Leben seinen gewohnten Gang.

Ich lebe mein eigenes Leben. Ich fühle mich in meinem Land wohl.

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1985: Der Krieg geht zu Ende.

654 Soldaten sind in diesem Krieg gestorben.

Meine Mutter sagt, wenn unsere Söhne hier in unserem eigenen Land fallen, haben wir den Krieg auch verloren.

Ich schweige.

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1990: Meine Mutter liegt auf ihrem Sterbebett und bittet mich, blond zu bleiben.

"Warum?", frage ich.

"Weil nur die Blonden überleben", antwortet sie.

"Aber warum soll ich blond sein?", beharre ich.

"Nur, um auf der sicheren Seite zu sein", sagt sie.

Sie verliert den Verstand, denke ich - und versuche, es mir mit dieser Erklärung leicht zu machen.

Kurz nachdem sie gestorben ist, erforsche ich zum ersten Mal in meinem Leben die Geschichte meiner Familie, die im Holocaust verloren gegangen ist, und schreibe sie auf. Meine Bücher sind mit dem jüdisch-israelischen Narrativ verwoben.

Ich bekomme Anerkennung in meinem Land.

Vor dem Hintergrund der Intifada und des zweiten Libanonkriegs erzähle und schreibe ich weiter meine eigene Geschichte.

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Zwischen Hoffnung und Verzweiflung

1992: die Rabin-Regierung, die Osloer Verträge

Die Hoffnung lebt wieder. Ich gehe auf die Straße, nehme an allen Kundgebungen auf dem Weg zum Frieden Teil, schließe mich einer Sonderdelegation an, um Arafat zu treffen.

"Wir werden die Hoffnung berühren", sage ich zu meinen Kindern und nehme sie mit mir nach Gaza.

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Historischer Handschlag: Israels Premierminister Jitzhak Rabin (l) und PLO-Chef Jassir Arafat (r) mit US-Präsident Bill Clinton (m) bei der Unterzeichnung der Osloer Verträge vor dem Weißen Haus in Washington 1993Bild: picture-alliance/CPA Media

1995: Rabins Ermordung

Mein Mutterland wird ermordet.

Ich erkenne, dass mein Volk in Angst und Hass versinkt und militärische Macht für die einzige Lösung hält.

Während der Zeit der Trauer und Verzweiflung, die auf das Attentat folgt, bleibe ich in meiner Komfortzone. Ich schreibe weiter Bücher als eine der Stimmen, die die Geschichte der zweiten israelischen Generation erzählen. Ich schreibe über das Trauma des Holocaust und über den Traum, eine freie Nation in unserem eigenen Land zu sein. Ich schreibe über das Starksein, das Überleben, das Leben.

Hin und wieder höre ich die Stimme meiner Mutter. Sie ermutigt mich, Fragen zu stellen und Dinge anzuzweifeln. Du liegst falsch, höre ich sie sagen.

***

Die Grenzen der Literatur

2009: Mitten in einem weiteren Gaza-Krieg  treffe ich einen palästinensischen Mann aus Ost-Jerusalem, der bereit ist, mir von seinem Alltag unter israelischer Besatzung zu erzählen. Ich sehe es als eine Gelegenheit, meinen Weg und die Überzeugungen und Annahmen, mit denen ich aufgewachsen bin, zu hinterfragen. Durch die Treffen mit ihm verstehe ich, dass seine Geschichte erzählt werden muss. Ich denke, vielleicht kann seine Geschichte Menschen zusammenbringen, Veränderung bewirken. Aber zu meiner Überraschung wird das Buch, in dem ich unsere Geschichte erzähle, in Israel nie veröffentlicht. Meine einigermaßen naive Hoffnung, dass Literatur Wände durchbrechen, alte Mythen entzaubern und Herzen öffnen kann, erweist sich als falsch.

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2014: Auch mein zweites Buch, das die Geschichte von palästinensischen Friedensaktivisten erzählt, wird in meinem Land nicht veröffentlicht.

Schlussendlich werde ich dazu übergehen, mich nur in "Schnee-Ländern", in denen ich viele Leser, Bekannte und Freunde habe, mit meinen Geschichten, Ideen und Gedanken auseinanderzusetzen.

In der Zwischenzeit wächst in Israel die Polarisierung, die Zwei-Staaten-Lösung verliert an Zuspruch, Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen sehen sich Kritik ausgesetzt, das Selbstverständnis Israels verlagert sich von einem demokratischen hin zu einem jüdischen Staat. In dieser Zeit kommt das Flüchtlingsproblem auf die Tagesordnung, aber Israel und seine Bürger tun sich schwer, diesen Menschen zu helfen und Zuflucht zu gewähren.

Der Text, den ich als Kind aus der Unabhängigkeitserklärung vorgetragen habe, scheint dem sich wandelnden Zeitgeist nicht standhalten zu können.

Menschenrechtsorganisationen, Journalisten und Bürger, die sich nicht dem Konsens unterwerfen, werden als Feinde angesehen, und jeder, der die Entscheidungen der Regierung und den Siedlungsbau im Westjordanland anzweifelt, gilt als Verräter.

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Was nun, Israel?

2018: Der 70. Unabhängigkeitstag, ich bin 65 Jahre alt.

An diesem Tag spüre ich den Phantomschmerz all dessen, was ich über die Jahre verloren habe.

Ich glaube, dass Israel heute vor fundamentalen Entscheidungen steht und sich eindringlicher denn je mit Fragen beschäftigen muss wie der, ob es sich als jüdischer oder demokratischer Staat definieren will.

Wird die Besatzung für immer andauern?

Was wird mit den Flüchtlingen passieren?

An Israels 70. Unabhängigkeitstag bin ich immer noch nicht bereit, aufzugeben. Ich hoffe noch immer, dass mein Land sich an den Prinzipien von Freiheit, Recht und Frieden orientieren wird, denen es sich an seinem Gründungstag verpflichtetet hat.

Und plötzlich, am Vorabend unseres Unabhängigkeitstags, ertappe ich mich dabei, wie ich meiner verstorbenen Mutter erzähle, dass mein Ehemann und ich in den vergangenen Jahren zwischen zwei Heimaten - Berlin und Tel Aviv - hin- und hergereist sind. Dass mein Sohn, ihr Enkel, das Land verlassen hat, um in Deutschland zu leben. Dass meine Tochter, ihre Enkelin, noch immer in Israel lebt und sich Sorgen um die Zukunft ihrer Söhne macht. Und ich sage ihr, dass ich blond bin und meine Haare regelmäßig blond färbe, nur, um auf der sicheren Seite zu sein - ganz so, wie sie es sich zu Lebzeiten gewünscht hat.

Die israelische Schriftstellerin Lizzie Doron wurde 1953 in Tel Aviv geboren. Sie hat sieben Bücher geschrieben und diverse internationale Preise für ihr Werk gewonnen. Die beiden Bücher, die als erstes in Deutschland erschienen sind: "Who the Fuck Is Kafka",  bei DTV 2014, sowie "Sweet Occupation", ebenfalls bei DTV im Jahr 2017 verlegt.

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