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Politik

"Russlands Jugend macht mich glücklich"

20. Juli 2017

Am Donnerstag ist die Menschenrechtlerin Alexejewa 90 Jahre alt geworden - und bekam überraschend Besuch vom russischen Präsidenten Putin. Im DW-Gespräch blickt sie zurück und erklärt, warum sie Hoffnung hat.

Ljudmila Alexeeva
Bild: DW

Deutsche Welle: Sie sind Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe, der ältesten noch bestehenden Menschenrechtsorganisation in Moskau. Im Jahr 2006 haben Sie einmal gesagt, dass es der Organisation in etwa drei von zehn Fällen gelingt, Menschen vor unfairer Justiz zu bewahren. Damals bezeichneten Sie dies als ein gutes Ergebnis.

Ljudmila Alexejewa: So haben damals viele gedacht und ich auch. Wir konnten uns in der Sowjetzeit nicht einmal vorstellen, jemandem real zu helfen. Wir konnten nur an die Politik appellieren, dass Menschen Rechte haben und dass der Staat verpflichtet ist, diese Rechte einzuhalten und die Würde seiner Bürger zu achten. Doch wir konnten dabei nicht behilflich sein. Später ja: In etwa drei von zehn Fällen konnten wir helfen, heute sogar in vier von zehn Fällen.

Bedeutet das, dass sich die Menschenrechtssituation gebessert hat?

Nein. Das bedeutet, dass die Menschenrechtsbewegung selbst größer geworden ist. Die Menschen wissen, dass sie Rechte haben und fühlen sich stark genug, sie zu verteidigen. Es ist nicht die Staatsmacht, die sich besser verhält. Das Selbstbewusstsein unserer Bürger ist gewachsen. In der Sowjetzeit waren wir eine Handvoll Menschenrechtler. Nur in Moskau gab es eine Vereinigung. In anderen Städten waren es einzelne Personen. Heute gibt es in jeder Region eine Menschenrechtsorganisation.

Was sind die wichtigsten Menschenrechtsverletzungen in Russland?

Das ist schwer zu sagen. Ein Soldat fühlt sich in anderen Rechten verletzt als eine Frau. Wir müssen allen helfen, deren Rechte verletzt werden. Während eines Treffens mit unserem Präsidenten konnte ich nur einige wichtige Rechtsverletzungen ansprechen. Aber ich habe solche ausgesucht, die derzeit besonders offensichtlich sind, darunter die Behinderung der öffentlichen Aufsichtskommissionen in Gefängnissen. Dort kommt es zu Folter, es werden sogar Menschen getötet. Die Öffentlichkeit muss das wissen.

Viele junge Menschen gehen inzwischen in Russland auf die Straßen. Wie bewerten Sie die Veränderungen in der Protestbewegung?

Wenn ich mich mit den jungen Menschen vergleiche, dann gebe ich ihnen 100 Punkte. Ich war in ihrem Alter eine Amöbe. Die heutige Jugend begreift sehr viel und weiß wie das Leben läuft. Der russische Philosoph Alexander Herzen hat einmal gesagt, dass es in Russland mit seiner sehr unglücklichen Geschichte zwei nicht geprügelte Generationen braucht, um ein normales europäisches Land zu werden. Das hatte er gesagt, ohne zu wissen, was für ein 20. Jahrhundert uns erwartete. Wir haben erst die Hälfte des Weges geschafft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die erste freie Generation herangewachsen. Es ist ein Glück, dass ich das erlebe und diese Generation sehe.

Eine ihrer vielen Aktionen: Alexejewa fordert "Achtet die Verfassung Russlands" (November 2009)Bild: Imago/Tass

Sie wurden auf der Krim geboren. Haben Sie dorthin noch irgendwelche Verbindungen?

Das ist sehr bitter. Für mich sind es Freunde, Schwestern und Brüder. Dieser irreparable Schaden, dem wir dem Land zugefügt haben, ist schrecklich. Wir stehen bei den Ukrainern zutiefst in der Schuld.

Haben Sie die Lage in der Ukraine nach dem Maidan verfolgt?

Der letzte Maidan hat das Wesen der Staatsmacht in der Ukraine nicht verändert. Mir gefällt die jetzige ukrainische Führung - Poroschenko und die anderen - auch nicht. Aber sie muss stärker mit den Menschen rechnen als unsere.

Hat sich denn in der Ukraine die Menschenrechtssituation irgendwie verändert?

In der Ukraine ist die Menschenrechtsbewegung viel später entstanden. Auch in der postsowjetischen Zeit, als wir noch keinen Streit mit der Ukraine hatten, haben russische Menschenrechtler kräftig geholfen, die Menschenrechtsbewegung in der Ukraine voranzubringen. Damals hinkten sie uns hinterher. Ich war schon lange nicht mehr in der Ukraine, aber soweit ich das beurteilen kann, ist es dort einfacher, für seine Rechte zu kämpfen. Gleichzeitig ist die dort die Menschenrechtsbewegung weniger entwickelt als bei uns.

Was muss geschehen, damit sich das ukrainische und russische Volk wieder vertragen?

Die meisten meiner Mitbürger sollten sich nicht mehr das böse Gerede in unserem Fernsehen anhören und den eigenen Verstand benutzen. Sie müssen sich gegenüber den Ukrainern so verhalten, wie diese es verdienen - nämlich gut. Und die Ukrainer müssen erkennen: Wenn sich unsere Machthaber ihnen gegenüber aggressiv verhalten, bedeutet das nicht, dass alle Russen über die Annexion der Krim glücklich sind. Ich bin der Meinung, dass die Krim für Russland wie ein Koffer ohne Griff ist. Er sieht nur schön aus, doch versuche ihn zu tragen! Das war ein irrsinniges Unterfangen mit nicht durchdachten Folgen. Wir alle werden noch lange darunter leiden, sowohl die Ukrainer als auch die Russen.

Ljudmila Alexejewa ist Historikerin, Menschenrechtlerin und ehemalige sowjetische Dissidentin. Sie war 1976 Gründungsmitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe. Ein Jahr später wurde sie gezwungen, die Sowjetunion zu verlassen. Von den USA aus setzte sie ihre Menschenrechtsarbeit fort. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrte Alexejewa 1993 nach Russland zurück. Seit 1996 ist sie Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Gruppe.

Das Interview führte Yulia Vishnevetskaya

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