1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Literatur

Schriftstellerin Ulitzkaja im DW-Gespräch

Sabine Kieselbach
1. April 2022

Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja ist wegen des Ukraine-Kriegs nach Berlin ausgewandert. Im DW-Interview berichtet sie von der Ohnmacht der russischen Gesellschaft.

Russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja im DW-Interview
Ljudmila UlitzkajaBild: DW

Seit Anfang März 2022 lebt Ljudmila Ulitzkaja in Berlin. Wie viele andere russische Kulturschaffende hat die 79-Jährige ihr Heimatland wegen des Ukraine-Krieges verlassen - ohne zu wissen, ob sie jemals zurückkehren kann. 

Mit ihrem analytischen Blick auf die Vergangenheit und die Gegenwart der russischen Gesellschaft ist Ulitzkaja eine der schärfsten Kritikerinnen des heutigen Russlands. Ihre Romane und Erzählungen spiegeln die Tragödie des 20. Jahrhunderts, die Epoche der Gewaltherrschaft und des Genozids. Als eine der ersten hat Ulitzkaja sich zu dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geäußert.

DW: Frau Ulitzkaja, wie geht es Ihnen? Seit wann genau sind Sie in Berlin?

Ljudmila Ulitzkaja: Ich bin hier seit dem 9. März. Und eigentlich geht es mir gut. Für mich bedeutet die Ausreise allerdings, dass ich nun lernen muss, unter völlig anderen Bedingungen zu leben. Irgendwie ist es eine Wiedergeburt in ein neues Leben. Sämtliche Angewohnheiten, alltägliche Reflexe müssen sich umstellen und anders funktionieren.

Ich habe gelesen, dass Ihr Sohn offenbar die treibende Kraft hinter Ihrem Umzug nach Berlin war. Warum haben Sie sich diesen längeren Abschied von Ihrer Heimatstadt Moskau zugemutet? Haben Sie die Situation für sich als gefährlich angesehen?

Ich habe mich nicht bedroht gefühlt und konnte die Entscheidung meines Sohnes auch nicht unbedingt nachvollziehen. Aber ich habe mich ihm untergeordnet, weil ich der Meinung bin, dass er sich in dem heutigen Leben besser auskennt als ich. Ich wiederum kann mich noch gut daran erinnern, wie ich meine Söhne aus dem Land geschafft habe, als sie in dem Alter waren, in dem sie wehrpflichtig waren und zur Armee hätten gehen müssen. Es war während des Krieges in Afghanistan. Ich habe meine Jungs damals in die USA geschickt. Also bin ich nun nach Berlin.

Ljudmial Ulizkaja (links) im Gespräch mit Sabine Kieselbach (rechts) und Lektorin Christina Links (Mitte)Bild: DW

Sie hatten schon immer eine kritische Haltung gegenüber der Staatsmacht in der Sowjetunion und später gegenüber Russland. In vielen Interviews haben Sie erklärt, das sei ein Merkmal für viele russische Intellektuelle. Stimmt das? Ich habe nämlich in einem Interview mit Ihrem ukrainischen Autorenkollegen Andrej Kurkow gelesen, dass das Gegenteil der Fall sei. Er sagt, die russischen Schriftsteller und Intellektuellen, denen er begegnet sei, hätten bis heute eine sowjetische Mentalität. Hat er die falschen Leute getroffen?

Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten: Kurkow hat seinen Standpunkt, ich habe meinen. In meinem weiten Bekanntenkreis - ich rede jetzt nicht einmal von Freunden, sondern von meiner Schicht, den zahlreichen Menschen, die ich kenne -, habe ich keinen Einzigen getroffen, der Putins Krieg befürwortet hätte. Keinen Einzigen.

Wieso finden russische Intellektuelle aber offensichtlich so wenig Gehör in der Bevölkerung, in der Gesellschaft?

Die Intellektuellen - Intelligenzia, wie man in Russland sagt - haben eben keinen großen Einfluss auf die russische Gesellschaft. Die Stimme der Intelligenzia ist nur sehr schwach zu vernehmen: Es sind fast alle Massenmedien gesperrt worden, die ihr als Plattform dienten. Die Proteststimme ist da, aber es hört sie kaum jemand.

Vor 100 Jahren gab es schon einmal eine riesige Ausreisewelle der Kulturelite aus Russland. Wiederholt sich die Geschichte?

Für mich ist es eine vor allem interessante Situation: Das russische Berlin anno 1922 war ein äußerst spannendes Kulturphänomen. Ich erinnere an den Roman "Zoo. Briefe nicht über die Liebe" von Wiktor Schklowski. Heute, genau 100 Jahre später, hätte man einen Text mit dem Titel "Zoo 2" schreiben können. Es ist schon aufregend.

Sie und zahlreiche andere Autorinnen und Autoren haben den Brief russischer Intellektueller gegen den Krieg in der Ukraine unterzeichnet. Ist es mehr eine Botschaft nach außen, um zu zeigen, es gibt auch andere Russen, oder ist es eine Botschaft nach innen?

Es gibt in Russland eine durchaus längere Tradition solcher Protestbriefe. Normalerweise sind die der Macht, der Regierung gewidmet. Mal sind die Texte gut, mal bescheiden. Das Ergebnis ist jedoch identisch: Solche Briefe bewirken nichts in der Politik. Denn die Macht in Russland ist es nicht gewohnt, die Gesellschaft zu berücksichtigen oder auch nur wahrzunehmen. So war es schon immer und so ist es noch heute. Vor allem werden solche Briefe von Intellektuellen verfasst, um die eigene Würde zu bewahren und auch nach außen zu zeigen, dass nicht alle in Russland die Entscheidungen der Regierung mittragen.

Ihre literarischen Hauptfiguren sind meist Frauen, die stark sind, solidarisch sind, selbstständig, voller Energie, lebensnah und praktisch. "Heldinnen des Alltags" sozusagen. Wo sind denn die Heldinnen heute in der Realität?

Russland ist grundsätzlich ein Land, in dem die Frauen eigentlich die Oberhand haben - überall, nur nicht in der Regierung. Ich meine: Wenn dieser Krieg gestoppt werden kann, dann nur durch Frauen. Wenn er nicht gestoppt wird, dann bedeutet das, dass es den Regierenden vollkommen egal ist, was die Frauen denken und was sie wollen.

Welche Folgen hat der Krieg in der Ukraine für die russische Gesellschaft?

Diese Folgen werden schrecklich sein, das ist klar. Ich befürchte, dieser Krieg wird mindestens für die nächsten zwei Generationen die Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern vergiften, vielleicht sogar länger. Es ist ein großes Trauma. Von der Wirtschaft rede ich jetzt gar nicht.

Die Sache ist: Beide Völker, Russen und Ukrainer, sind aufs Engste miteinander verbunden. Es gibt zahlreiche gemischte ukrainisch-russische Familien, Kinder mit gemischter Identität. Früher hat man in solchen Familien normalerweise russisch gesprochen, nun wird es umgekehrt sein. Russland, ob es will oder nicht, stärkt jetzt die Ukrainer als politische Nation. Das ist auch ein Ergebnis dieses Krieges.

Meine Gedanken sind jetzt vor allem bei den Müttern der Soldaten, russischer wie ukrainischer. Denn mit ihren Söhnen haben wir das Wichtigste zu verlieren, was es überhaupt gibt: junges Leben. 

Russischer Soldat in der UkraineBild: Gavriil Grigorov/TASS/dpa/picture alliance

Russische Künstler, die sich nicht klar gegen den Krieg und gegen Putin positionieren, sind mittlerweile international isoliert. Finden Sie das richtig? Müssen Künstler politisch Position beziehen? Verlangt man da nicht etwas Unmögliches, wenn man sieht, was in Russland mit denen passiert, die sich gegen das Regime stellen?

Ich bin der Meinung, dass jeder Künstler, wie auch jeder andere Mensch, ein Recht auf eigene Ansichten hat, auch in der Politik. Ein Künstler soll einzig an seinem Werk gemessen werden, nicht an seinen politischen Aussagen oder Haltungen. Ich darf in diesem Zusammenhang an Richard Wagner und seine Ansichten erinnern.

Zahlreiche Künstler verlassen Russland, viele kommen nach Deutschland. Wie können wir sie unterstützen?

Es ist sehr wichtig, dass man hier im Westen begreift, dass die Haltung zum Krieg in Russlandin der Bevölkerung keineswegs so einhellig ist, wie das von der Regierung gerne darstellt wird. Es gibt große Teile der Bevölkerung, einfache Menschen wie Bildungsschicht, die den Krieg verabscheuen und dagegen gerne auf die Straße gehen würden, wenn es nicht so gefährlich wäre.

Sie sind vor allem eine große Schriftstellerin, und als solche wollen Sie ja auch wahrgenommen werden. Ihre Rolle jetzt im Moment ist aber, dass Sie weniger zu Ihren literarischen Arbeiten befragt werden, sondern mehr zur Situation in Russland und zum Krieg in der Ukraine. Sie sind sozusagen eine Botschafterin des anderen Russlands. Sind Sie mit dieser Rolle glücklich?

Nein, ich bin mit dieser Rolle keineswegs glücklich. Im Gegenteil, ich wäre viel lieber weiterhin eine Beobachterin gewesen, wie ich die Rolle auch für mich als Schriftstellerin eigentlich definiere. Aber das Leben hat eben anders für mich entschieden.

DW-Literaturkorrespondentin Sabine Kieselbach hat mit der Schriftstellerin in ihrer Berliner Wohnung gesprochen.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen