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LKW-Stau und Hunger: Woran die Hilfe für Gaza scheitert

Andreas Noll
23. Mai 2025

Seit Anfang März hat Israel humanitäre Lieferungen in den Gazastreifen blockiert. Erst jetzt rollen wieder einzelne Lastwagen - doch viele Güter bleiben stecken. Was heißt Öffnung, wenn die Hilfe nicht ankommt?

Themenpaket Gaza Hilfslieferungen und Blockade | Gazastreifen Nuseirat 2025 | Palästinenser warten auf Nahrungsmittel
Nach der wochenlangen Blockade laufen der Hilfslieferungen erst langsam wieder anBild: Eyad Baba/AFP

Nach elf Wochen vollständiger Blockade hat die israelische Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eingelenkt: Seit Wochenbeginn dürfen erste LKW in den Gazastreifen fahren, um die notleidende Bevölkerung mit Hilfsgütern zu versorgen. Dies sei zur Sicherung der internationalen Unterstützung wichtig, so Netanjahu.

Wie viele Hilfslieferungen kommen aktuell in Gaza an?

Laut der israelischen Koordinierungsbehörde COGAT passierten vom 20. bis 22. Mai insgesamt 198 mit Hilfsgütern beladene Lastwagen den Übergang Kerem Schalom im Dreiländereck von Ägypten, Israel und dem Gazastreifen. Am 20./21. Mai wurden 98 Lastwagen inspiziert, am Donnerstag (22. Mai) weitere 100. Die LKW transportieren humanitäre Hilfe, darunter Mehl für Bäckereien, Babynahrung, medizinische Ausrüstung und Medikamente.

Das klingt nach Bewegung - tatsächlich ist es jedoch nur ein Rinnsal: Während der Waffenruhe Anfang des Jahres fuhren täglich bis zu 600 LKW mit Hilfsgütern über die Grenze in den Gazastreifen, um die rund zwei Millionen Palästinenser zu versorgen. Selbst das Wiederanfahren der Lieferungen hilft bislang kaum: UN-Teams berichten, dass erst in der Nacht auf Donnerstag die ersten Lastwagen des Welternährungsprogramms (WFP) in Gaza angekommen seien und Mehl an eine Handvoll Bäckereien geliefert hätten.

Über einen langen Zeitraum habe die Fracht mangels Sicherheitsfreigabe an Sammelpunkten festgesteckt. "Wir haben es geschafft, die ersten Hilfsgüter in Gaza zu verteilen. Das ist ein kleiner Hoffnungsschimmer, angesichts der Not aber viel zu wenig. Es bräuchte hunderte Trucks täglich. Die stehen startbereit hinter der Grenze", sagt Martin Frick, Deutschland-Chef des UN-Welternährungsprogramms, der DW.

Seit Donnerstag kann in ersten Bäckereien wieder Brot gebacken werdenBild: Moiz Salhi/APA Images via ZUMA Press Wire/picture alliance

Wo stauen sich die Vorräte?

Hinter den Schlagbäumen hat sich ein gewaltiger Puffer aufgebaut. Das WFP hält mehr als 116.000 Tonnen Lebensmittel in Ägypten, Jordanien und Israel bereit - genug, um eine Million Menschen etwa vier Monate lang zu versorgen. Laut dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) stehen zudem fast 3000 voll beladene LKW jederzeit startbereit.

Vom Vorrats- ins Verteillager bewegt sich jedoch wenig. Am derzeit einzig geöffneten Grenzübergang Kerem Schalom müssen alle Güter auf andere LKW umgeladen werden. Danach müssen UN-Konvois an einem vorgelagerten Sammelpunkt warten, bis die israelische Militär­koordination Sicherheits-OK für ihre geplante Route erteilt. Wenn das "Ok" wieder zurückgezogen wird, dann bleibt der Konvoi im Lager stehen, bis es Entwarnung gibt. So stapeln sich Paletten mit Babynahrung und Mehl, während die Suppenküchen im Norden längst kalte Öfen haben.

Suppenküchen in Gaza gehen die Lebensmittel aus

03:35

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Wer liefert die Hilfe?

Das Palästinenserhilfswerk UNRWA ist weiterhin der größte Akteur: Es betreibt die Notunterkünfte und hat die blockierten 3000 LKW befüllt. Das Welternährungsprogramm beschafft Mehl, richtet Konvois aus und betreibt 25 Bäckereien im Gazastreifen. Diese mussten allerdings Ende März mangels Treibstoff schließen. Am 22. Mai konnten die ersten Bäckereien ihre Arbeit wiederaufnehmen. Das Kinderhilfswerk UNICEF und die Weltgesundheitsorganisation WHO steuern Spezialnahrung, Impfstoffe und OP-Material bei.

Unterstützt werden sie von den ägyptischen, jordanischen, katarischen, emiratischen und türkischen Rote-Halbmond-Gesellschaften, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) sowie Dutzenden internationalen NGOs wie Islamic Relief. Bilaterale Hilfen aus EU-Staaten oder den USA landen jedoch im selben Nadelöhr, da Israel jede Sendung durch das eigene Inspektionsregime schickt. Parallel dazu plant die israelische Regierung gemeinsam mit US-Firmen den Aufbau mehrerer "Secure-Hubs" im Süden, in denen private Sicherheitskräfte die Verteilung übernehmen sollen. Die UN lehnen dieses Modell jedoch als nicht neutral ab.

Warum staut sich das Material?

Blockade und Bürokratie: Israel begründet die vollständige Sperre vom 2. März damit, dass die islamistische Hamas , die von vielen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, Hilfsgüter plündere. Erst unter massivem internationalem Druck ließ es eine begrenzte Einfuhr "bis zum Start des neuen Verteilsystems" zu. Solange sich UN und Israel jedoch über Zuständigkeiten streiten, bleibt jede Palette in den Zwischenlagern liegen.

Sicherheit und Diesel: Innerhalb Gazas behindern Bombardierungen, Plünderungen und zerstörte Straßen die Konvois. Ohne Diesel kann niemand Mehl abholen oder Kühlketten betreiben. So stranden auch die wenigen zugelassenen Ladungen in Depots, während die Brotpreise zwischenzeitlich explodiert sind.

Löscharbeiten auf brennendem Gaza-Hilfsschiff "Conscience" vor der Küste Bild: EDT Offshore/Handout/REUTERS

Gibt es Lieferungen übers Meer?

Der im Frühjahr 2024 unter Federführung Zyperns ("Amalthea") eröffnete seegestützte Hilfskorridor hat sich nicht zu einer verlässlichen Versorgungsroute entwickelt. Zwar brachte die erste Testlieferung am 17. März 2024 rund 100 Tonnen Nahrung an eine provisorische Mole nördlich von Gaza, doch nach dem israelischen Luftangriff auf einen Konvoi von World Central Kitchen (WCK) Anfang April 2024 stellten die Betreiber ihre Fahrten ein.

Parallel dazu setzte die US-Armee im Mai 2024 ein schwimmendes Trident-Pier vor Gaza ein. Geplant waren zunächst 90 bis 150 LKW-Ladungen pro Tag. Tatsächlich gelangten innerhalb von 20 Betriebstagen knapp 9000 Tonnen Hilfsgüter an Land. Wetterschäden, Sicherheitsprobleme und Plünderungen führten jedoch zu wiederholten Unterbrechungen und am 17. Juli 2024 erklärte das Pentagon die Mission schließlich für beendet. Auch aktuelle NGO-Initiativen scheitern an der Blockade: So wurde das Schiff "Conscience" der "Freedom-Flotilla-Koalition" am 2. Mai 2025 auf dem Weg nach Gaza vor Malta von Drohnen getroffen und musste beschädigt umkehren. Seitdem sind keine zivilen Hilfstransporte per Schiff in den Gazastreifen gelangt.

Hilfslieferungen des Welternährungsprogramms erreichen am Donnerstag GazaBild: Jack Guez/AFP via Getty Images

Was bedeutet die aktuelle Situation für die Menschen?

Schon vor der Blockade waren mehr als zwei Drittel der Bevölkerung auf externe Nahrungshilfe angewiesen. Durch den elfwöchigen Totalstopp ist die Lage eskaliert. Laut einer Analyse der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) befanden sich zwischen dem 1. April und dem 10. Mai 93 Prozent der Bevölkerung (1,95 Millionen Menschen) in einer Krise oder in einer noch schlimmeren Situation (IPC-Phase 3 oder höher). Davon befinden sich 12 Prozent (244.000 Menschen) in der katastrophalen Phase 5 (hungersnotähnliche Zustände) und 44 Prozent (925.000 Menschen) in Phase 4 (Notlage).

Rein rechnerisch benötigt die Enklave täglich etwa 1300 Tonnen Lebensmittel, um 2,2 Millionen Menschen mit durchschnittlich 2100 kcal zu versorgen. Ein Standard-Hilfstransporter fasst rund 25 Tonnen, sodass allein für Lebensmittel etwa 50 bis 60 LKW pro Tag nötig wären. Da zusätzlich Wasser, Treibstoff, Medikamente und Hygieneartikel eingeführt werden müssen, setzen UN-Organisationen den Gesamtbedarf bei mindestens 500 LKW täglich an. Bleibt der Zufluss bei 100 Wagen und die Verteilung ungeklärt, droht Gaza in den kommenden Wochen die offizielle Hungersnot.