"Wir haben sozusagen die DDR überholt"
8. November 2019DW: Was erinnern Sie vom Tag des Mauerfalls, dem 9. November?
Günther von Lojewski: Der Tag war grau in Berlin, nass und unansehnlich. Und das einzige Highlight war an diesem Abend ein Empfang im Verlagshaus des Springer Medienkonzerns. Da bin ich auch hin, mit vielen anderen. Plötzlich wurde ich gefragt: Haben Sie etwas gehört? Da drüben in Ost-Berlin soll etwas passiert sein. Und dann bin ich - was man nicht tun darf im fremden Haus - in die Nachrichtenzentrale, habe mir die Nachrichten angeguckt und dann entschieden: Du musst sofort in den Sender und arbeiten, also bin ich hingefahren. Unterwegs habe ich einen kurzen Stopp an der Friedrichstraße gemacht, um mir das nochmal zu verinnerlichen, wie trist, wie dunkel, wie kalt dieser Übergang war. Die Zöllner haben gesagt: "Mein Gott, hier passiert nichts heute Nacht. Sie können morgen wieder kommen, wenn Sie ausgenüchtert sind. Da wird immer noch derselbe Dreck sein wie jetzt." Aber das war natürlich ein Irrtum.
Was genau haben Sie dann im Sender gemacht?
Ich habe an dem Abend zunächst einmal versucht, die gesamten Informationen mit der ARD zu koordinieren. Dann habe ich der ARD klar gemacht, dass ich den Kommentar sprechen möchte. Anschließend habe ich mich mit Hanns Joachim Friedrichs, der an dem Abend die Tagesthemen moderierte, die Sendung besprochen. Wir kannten uns aus gemeinsamen Zeiten beim ZDF, hatten ein großes Vertrauensverhältnis zueinander. Er rief mich an und sagte: "Ich gehe jetzt ins Studio. Kann ich sagen: Die Mauer ist auf?" Ich habe ihm nach zwei Minuten gesagt: "So sagen wir es, das ist abgesegnet."
Denn der Sender Freies Berlin (SFB) hatte ja 34 Korrespondenten innerhalb von einer Stunde losgeschickt. Die waren in Ost-Berlin und West-Berlin unterwegs und mussten dann immer irgendwo ein Telefon suchen, weil es ja noch keine Handys gab, um der Zentrale zu melden: "Bei mir ist nichts los" oder "ich gehe jetzt dorthin", "bei mir sind gerade zwei Flüchtlinge angekommen". Ich wusste also, wovon ich rede, und deshalb habe ich dem Hanns Joachim Friedrichs gesagt: Wir können das sagen.
Sie waren also als erste zur Stelle?
Als ortsansässiger Sender waren wir zunächst mehr oder weniger die einzigen. Es war so, dass alle Kollegen in den Sender gestürmt kamen, es war wie in einem Ameisenhaufen. Pensionäre, Leute, die nichts mit Fernsehen oder Hörfunk zu tun hatten, die aus der Verwaltung kamen, die im Urlaub gewesen waren, die kamen alle angerannt und sagten: Wo haben wir noch 'ne Kamera?
Dazu muss man wissen: Der Sender Freies Berlin hatte an diesen Tagen zum ersten Mal die Chance, eine Reise eines Bundeskanzlers in einen Ostblockstaat zu begleiten. Nun sind viele Kollegen nach Polen mitgereist. Wir hatten sie ausgestattet mit den besten Kameras, mit den besten Mikrofonen, mit den besten Reportern. Die waren also alle in Warschau, wo sich kein Mensch für sie interessiert hat, sie waren weg. Wir mussten sozusagen aus dem Keller die letzte verstaubte Kamera und das letzte verstaubte Mikrofon ausgraben, um diese 34 Kollegen auszustatten und in die Stadt zu schicken. Die Stimmung war wirklich fantastisch.
Manche haben Ihnen später vorgeworfen, der SFB habe dazu aufgerufen, die Mauer zu öffnen: Was sagen Sie dazu?
Ich sage Ihnen offen, mir sind alle Journalisten nicht geheuer, die mit ihrer Berichterstattung Politik machen wollen. Das greift leider um sich, ist mein Eindruck. Darüber bin ich überhaupt nicht glücklich. Ich habe mich selbst davor immer fernzuhalten versucht. Ich glaube nur, dass es in diesem Falle nicht greift. Sondern der Sender Freies Berlin hat als ortsansässige Anstalt vor allen anderen, die nämlich ihre Sender bereits geschlossen hatten um die Tageszeit, sofort, intensiv und schnell berichtet.
Wir haben, wie mir Günter Schabowski in vielen gemeinsamen Diskussionen gesagt hat, sozusagen die DDR überholt. Die Führung, die ja erst am nächsten Tag das Ganze sozusagen praktisch umsetzen sollte. Ja, wir haben informiert und zwar intensiv, das ist richtig. Wir haben schnell reagiert. Denn mit einem solchen Thema interessiert man Menschen. Dass diese Menschen sich anschließend mobilisiert haben und zur Mauer gegangen sind, das war deren völlig freie Entscheidung. Wir haben sie nicht eingeladen: Geht zur Mauer, wir wollen euch gerne da sehen, wir wollen, dass die Mauer fällt, sondern die Menschen haben sich aufgemacht. Zuerst zu wenige, weil gerade noch Fußball im Fernsehen übertragen wurde. Aber dann doch mehr. Und dann haben wir wiederum über die Menschen berichtet, die hingegangen sind und so hat sich das aufgebaut. Aber ohne, dass der SFB gesagt hätte: Wir wollen das jetzt. Nein, das haben wir nicht getan, davon haben wir uns ferngehalten. Das hatte eben nur die Wirkung.
Was haben Sie in Ihrem Kommentar an dem Abend gesagt?
Ich habe unter anderem gesagt, dass die Menschen in der DDR jetzt nicht mit dem Satz konfrontiert werden sollten: Wir, die Wessis, wir waren besser, wir waren klüger, wir waren fleißiger, sondern ich hab gesagt: Die Menschen in der DDR verdienen keine Häme, sondern sie waren 40 Jahre länger mit Unfreiheit geschlagen. An ihnen ist jetzt wiedergutzumachen, was wir nach dem Krieg schon an Millionen Flüchtlingen gut gemacht haben. Außerdem: Wiedervereinigung - immer daran denken, nie davon reden. Und: Die Zukunft Deutschlands liegt in Europa. Ich glaube, das war ziemlich gut für den ersten Abend.