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KonflikteUkraine

Lwiw: Leben im Schatten des Krieges

Emmanuelle Chaze
23. April 2022

Lwiw im Westen der Ukraine galt vielen als sicherer Hafen. Seit Beginn des russischen Einmarsches bietet die Stadt hunderttausenden Flüchtlingen Zuflucht. Der Alltag in der Stadt geht weiter - trotz drohender Angriffe.

Ukraine, Lviv | Alltagsleben
Lwiw ist etwa 70 Kilometer von der polnischen Grenze entferntBild: Emmanuelle Chaze/DW

Es ist Frühling in Lwiw. Hunderte Kilometer liegen zwischen der Hauptstadt Kiew und der Front im Donbass. Fast könnte man vergessen, dass ein Krieg tobt. Im historischen Zentrum, das zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, pulsiert das Leben. Inmitten der unzähligen trendigen Cafés und der gemütlichen Restaurants sind immer wieder Straßenmusiker zu hören. Babusyas, wie Großmütter in der Ukraine liebevoll genannt werden, verkaufen zauberhafte Narzissen.

In der Ostukraine wird heftig gekämpft, doch in Lwiw ist das Leben vergleichsweise friedlichBild: Emmanuelle Chaze/DW

Während es in einigen Nachbarländern seit Beginn des Krieges am 24. Februar zu Panikkäufen kam, gibt es in den Supermärkten hier keine Anzeichen dafür. Es gibt Lebensmittel im Überfluss, die Bäume schlagen aus und die Blumen blühen. Doch bei näherer Betrachtung bekommt die Idylle Risse. Passanten scheinen ihren Alltagsgeschäften wie gewohnt nachzugehen, aber ihren Gesichtern sieht man die Sorgen an.

Die Blicke der wenigen Menschen, die gemütlich durch die Stadt zu schlendern scheinen, bleiben an den zahlreichen architektonischen Schätzen der Stadt hängen. Die Sandsäcke und Metall- und Holzplatten, die sie ummanteln, um sie vor russischen Angriffen zu schützen, erinnern daran, dass sich das Land im Krieg befindet.

Ukrainische Kulturgüter in Gefahr

06:19

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Yuri ist wie andere Einheimische überzeugt, dass das Leben weitergehen muss. "Während der ersten beiden Wochen stand ich unter Schock, aber danach habe ich wieder normal weitergemacht. Ich fühle mich hier sicher und habe keine Angst, denn ich weiß, dass unsere Streitkräfte siegen werden", sagt der etwa Sechzigjährige und schließt mit den Worten "Ruhm der Ukraine!"

Der Ausruf "Slava Ukraini" steht für ein Phänomen, das seit Beginn des Krieges in der gesamten Stadt zu beobachten ist: ein übersteigerter Patriotismus. Überall sind ukrainische Flaggen zu sehen und alle paar Minuten schallt einem die Nationalhymne entgegen, aus einem Geschäft, einem Auto oder einfach auf der Straße.

Leben mit der neuen Normalität

Der westliche Teil der Ukraine ist seit Beginn des russischen Einmarsches bislang relativ glimpflich davongekommen. Doch ganz hat der Krieg nicht vor der Stadt Halt gemacht. Am 18. April starben bei einer Reihe von Luftangriffen, die laut Russland militärischen Einrichtungen galten, sieben Personen. Mindestens elf wurden verletzt.

Unter den Verletzten war auch der dreijährige Artem. Seine Eltern waren aus dem nahezu zerstörten Charkiw im Osten des Landes geflohen, um ihrem Sohn eine bessere Zukunft zu bieten. Doch am Montag heulten die Sirenen in der Stadt fünfmal innerhalb von 24 Stunden und erinnerten jeden in Lwiw daran, dass dies keine gewöhnlichen Zeiten sind.

Es gibt keine U-Bahn in Lwiw, Bunker sind jedoch zahlreich vorhanden. Modernere Gebäude sind unter der Erde bereits vorsorglich mit funktionierenden Nachbildungen der Außenwelt ausgestattet, einschließlich Stühlen, Bänken und manchmal sogar einer Küche. Die Panik hält sich in Grenzen. Die Menschen begeben sich einfach zum nächsten unterirdischen Schutzraum. Einige kommen in Gruppen, andere alleine. Einige wohnen im Gebäude, andere liefen nur zufällig daran vorbei, als der Alarm ertönte.

Hundertausende flüchteten in den letzten zwei Monaten nach LwiwBild: Emmanuelle Chaze/DW

Alle versuchen, sich für die Dauer des Alarms, der nur einige Minuten oder auch mehrere Stunden dauern kann, zu beschäftigen. Wenn es Nacht ist, bringen einige einen Schlafsack mit, während andere eine Thermoskanne und ein Buch dabei haben. Das ist die neue Normalität, an die sich die Ukrainer gewöhnt haben.

Tausende neue Flüchtlinge pro Tag

Ein weiterer stummer Zeitzeuge ist der Hauptbahnhof der Stadt, nur wenige Minuten Autofahrt vom Zentrum entfernt. Das monumentale Jugendstilgebäude ist zum Symbol der Not der Ukrainer geworden, die vor dem Krieg fliehen.

Hinter den eindrucksvollen majestätischen Holztüren, die seinen Eingang schmücken, ist der Bahnhof zu einem Zentrum des Leids, der Tränen und der zerbrochenen Träume geworden. Tag und Nacht strömen Massen von Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben durch den Bahnhof. Seit Beginn des Krieges treffen hier Frauen, Kinder und ältere Menschen aus den Regionen ein, die am stärksten umkämpft sind. Aus jedem Zug steigen neue Menschen, die durch das Erlebte geschwächt und traumatisiert sind, und die Geschichten von zurückgelassenen Menschen und zerstörten Wohnungen mit sich bringen.

Die Bevölkerung der Stadt, die knapp über 700.000 Einwohner zählte, ist seit dem 24. Februar massiv angeschwollen. Hunderttausende Flüchtlinge sind in den fast zwei Monaten seit Beginn des Krieges in der Stadt angekommen. Einigen Schätzungen zufolge hat sich die Zahl der Einwohner verdreifacht. Zahlen des UN-Flüchtlingskommissariats zufolge sind innerhalb der Ukraine 7,1 Millionen Menschen auf der Flucht. Fünf Millionen haben Zuflucht in benachbarten Ländern gesucht.

"Lasst die Ukrainer leben"

Zu den Binnenvertriebenen gehört auch Vira. Die ältere Frau ist in Tränen aufgelöst. Sie ist gerade aus Lyman in der umkämpften Region Donezk angekommen: "Vor zwei Tagen wurde unser Dorf bombardiert und wir mussten fliehen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, außer: Lasst die Ukrainer leben. Niemand unterstützt diesen Krieg. Unsere Kinder verstecken sich alle den ganzen Tag im Keller. Es gibt kein Licht, keine Internetverbindung. Wir wissen nicht, was als Nächstes passiert und was wir sonst tun können."

Vira gehört zu den Glücklichen. Sie wird bei ihrer Tochter unterkommen, die in der Nähe von Lwiw lebt. Doch viele der Menschen, die in Lwiw ankommen, sind orientierungslos und ohne Perspektive. Alle hoffen, eines Tages nach Hause zurückkehren zu können. Doch im Moment fühlt es sich nirgendwo in der Ukraine sicher an, weder für die Einwohner Lwiws noch für die Vertriebenen.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

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