Müsste Benjamin Netanjahu in Deutschland verhaftet werden?
4. April 2025
Theoretisch hätte Benjamin Netanjahu bei seinem Besuch in Ungarn am Donnerstag, verhaftet werden können. Denn das Weltstrafgericht, der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag, hat gegen Israels Ministerpräsidenten im November 2024 einen Haftbefehl erlassen – wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gazastreifen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Netanjahu konnte sich aber darauf verlassen, unbehelligt zu bleiben. Zwar gehört Ungarn der Europäischen Union (EU) an und ist Gründungsmitglied des Weltstrafgerichts, aber der rechtspopulistische und autoritär regierende Viktor Orbán hatte seinem Gast schon vor seinem Besuch demonstrativ freies Geleit zugesagt.
Bundeskanzler Scholz kann sich keine Verhaftung vorstellen
Auch in den meisten anderen europäischen Staaten einschließlich Deutschland hätte Netanjahu wohl nichts zu befürchten. Der bis zur Bildung einer neuen Regierung geschäftsführende Bundeskanzler Olaf Scholz sagte am Donnerstag in Berlin: "Dass es in Deutschland zu einer Verhaftung kommt, kann ich mir nicht vorstellen."
Die Worte des Sozialdemokraten (SPD) erinnern an das, was sein möglicher Nachfolger Friedrich Merz einen Tag nach der Bundestagswahl am 23. Februar gesagt hat: "Ich halte es für eine ganz abwegige Vorstellung, dass ein israelischer Ministerpräsident die Bundesrepublik Deutschland nicht besuchen kann." Zuvor hatte Christdemokrat (CDU) Merz Netanjahu in einem Telefonat zugesagt, Mittel und Wege zu finden, dass er Deutschland besuchen und wieder verlassen könne, ohne verhaftet zu werden.
Der Deutsche Bundestag hat ein Gutachten erstellen lassen
Doch so einfach, wie sich der potenzielle Bundeskanzler das vorstellt, ist es nicht. Das geht aus einem Gutachten hervor, dass der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags auf Antrag des Linken-Politikers Gregor Gysi erstellt hat. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die völkerrechtlichen Verpflichtungen, die sich für alle 124 Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs ergeben. Die sind in der Gründungsurkunde geregelt, dem sogenannten Römischen Statut.
In Artikel 89 heißt es: "Der Gerichtshof kann jedem Staat, in dessen Hoheitsgebiet sich eine Person vermutlich befindet (…), um Zusammenarbeit bei der Festnahme und Überstellung der Person ersuchen." Deutschland müsste Netanjahu also nach Den Haag ausliefern. Das ergibt sich aus dem 2002 vom Bundestag beschlossenen Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Weltstrafgericht.
Theoretisch müsste Netanjahu ausgeliefert werden
Paragraf 2 ist eindeutig: "Personen, um deren Überstellung der Internationale Strafgerichtshof in Übereinstimmung mit dem Römischen Statut ersucht hat und die sich im Inland aufhalten, werden zur Strafverfolgung und zur Strafvollstreckung nach Maßgabe des Römischen Statuts und dieses Gesetzes überstellt."
Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags stellt in seinem Gutachten klar, dass es keinen rechtlichen Spielraum gebe, um einen internationalen Haftbefehl zu ignorieren: "Ein Überstellungsersuchen müsste vielmehr vom Bundesministerium der Justiz an die zuständige Generalstaatsanwaltschaft zur Veranlassung einer Festnahme weitergeleitet werden."
Deutschlands historische Verantwortung gegenüber Israel
In dem Gutachten wird aber auch die besondere politische und moralische Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel thematisiert. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 in Europa etwa sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens systematisch ermordet. Wegen dieser historischen Schuld und Verantwortung gilt es als deutsche Staatsraison, das Existenzrecht und die Sicherheit Israels zu garantieren.
Dabei handele es sich jedoch um eine rein politische Maxime, betont der Wissenschaftliche Dienst. Nicht aber um einen die deutsche Staatsgewalt und Außenpolitik rechtlich bindenden Grundsatz. Die Debatte über eine mögliche Verhaftung Netanjahus durch deutsche Behörden sei deshalb ein politisches Dilemma, aber kein rechtliches.
Das Völkerrecht wird unterschiedlich interpretiert
Die meisten Fachleute sind sich einig: Deutschland müsste den israelischen Regierungschef verhaften und ausliefern, wenn das Weltstrafgericht in Den Haag darum ersucht. Anderer Auffassung ist der Wiesbadener Staats- und Verwaltungsrechtler Matthias Friehe, der schon im Mai 2024 den sich abzeichnenden Haftbefehl gegen Netanjahu als unzulässig bewertete.
In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) begründete er seine rechtliche Position vor allem mit der Immunität, die dem amtierenden Ministerpräsidenten Israels zustehe und ihn vor Strafverfolgung schütze. Friehe verwies zudem darauf, dass Israel kein Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofs sei. "Deutschland würde also seine völkerrechtliche Pflicht gegenüber Israel verletzen, wenn es den israelischen Regierungschef verhaften und nach Den Haag überstellen würde."
Ein Präzedenzfall: Sudans Ex-Präsident Al-Bashir
Damit vertritt Friehe allerdings eine Minderheitsmeinung, der eine Gruppe von Völker- und Strafrechtlern – zwei Frauen und sieben Männer – widerspricht. Der Text erschien ebenfalls in der FAZ. Das zentrale Argument hat mit einem vergleichbaren Fall aus dem Jahr 2019 zu tun. Damals weigerte sich Jordanien, Sudans Präsident Umar Al-Bashir an den Internationalen Strafgerichtshof auszuliefern.
Der Streit landete vor der Berufungskammer des Weltstrafgerichts. Das Urteil war juristisch eine doppelte Niederlage für Jordanien: Das Land habe seine Verpflichtungen verletzt, weil es den per Haftbefehl gesuchten Al-Bashir auf seinem Hoheitsgebiet nicht festgenommen hatte. Außerdem genieße Al-Bashir vor einem internationalen Straftribunal keine Immunität.
Auch gegen Wladimir Putin gibt es einen Haftbefehl
In der politischen und medialen Debatte über den Umgang Deutschlands mit Israels Regierungschef Netanjahu gibt es aber noch einen anderen heiklen Punkt – und der hat mit Wladimir Putin zu tun: Gegen den russischen Präsidenten existiert bereits seit März 2023 ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Deutschland müsste ihn ausliefern – daran ließen Bundeskanzler Olaf Scholz und sein damaliger Justizminister Marco Buschmann keinen Zweifel. Man sei verpflichtet, Putin zu inhaftieren und an den Internationalen Strafgerichtshof zu übergeben, wenn er deutsches Territorium betrete. Wie man sich im Falle eines Deutschland-Besuchs Netanjahus verhalten würde, ist trotzdem weiterhin unklar.
Ausweichende Antworten der Bundesregierung
In der Bundespressekonferenz gab es auf Fragen von Journalistinnen und Journalisten zum Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes nur ausweichende Antworten. "Zur Kenntnis nehmen wir das natürlich, aber einen neuen Stand kann ich deshalb trotzdem nicht mitteilen", sagte eine Regierungssprecherin.