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Politik

Corona-Krise: Ungarische Kommunen unter Druck

Stephan Ozsváth
13. April 2020

Ein Notstandsgesetz in der Corona-Krise erlaubt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán ein Regieren per Dekret auf unbestimmte Zeit. Bürgerrechtler und Opposition befürchten eine weitere Einschränkung des Rechtsstaats.

Budapest Parlament Ungarn
Die nahezu unendlichen Weiten der Macht verdankt Orbán seiner Zweidrittelmehrheit im ParlamentBild: DW/G. Saudelli

Péter Niedermüller ist sauer auf die Budapester Regierung. "Sie erschwert unsere Arbeit", sagt der Ungar. Der linke Oppositionspolitiker ist Bürgermeister des siebten Budapester Bezirks Erzsébetváros und kämpft im Kleinen nicht nur mit der Corona-Pandemie, sondern auch mit der Informationspolitik von oben.

"Die Strategie der Regierung ist widersprüchlich", sagt der frühere Europaparlamentarier. "Morgens sagt der Ministerpräsident, dass die Schulen nicht geschlossen werden", schimpft Niedermüller. Noch am selben Tag heiße es dann, sie würden doch geschlossen. Da die Kommunen auch die Schulspeisungen organisieren, müssten sie aber planen können. Auch bei den Ausgangssperren oder dem Thema Masken-Tragen "weiß keiner mehr, was er nun tun soll", klagt Niedermüller, der der Demokratischen Koalition angehört - einer Splitterpartei, die der frühere Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány gegründet hat.

Geldhahn zu für Oppositionelle?

Am meisten aber plagen Niedermüller seit der Ermächtigung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán von Ende März Geldsorgen. "Die Regierung nimmt den Kommunen wichtige Einnahmen weg", sagt er und nennt als Beispiele Parkgebühren, KfZ-Steuern und Touristenabgaben. Die Verluste für seinen Bezirk beziffert er gegenüber der DW auf 50 Millionen Forint (139.000 Euro). Doppelt soviel werde sein Bezirk aber für die Milderung sozialer Härten ausgeben müssen, so der Oppositionspolitiker. Hinzu kämen Mehrausgaben für Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel. "Für die Entwicklung des Viertels und die Sanierung von Wohnungen bleibt da kein Geld", sagt Niedermüller.

Weitreichende Machtbefugnisse: Viktor OrbanBild: picture-alliance/AP/MTI/Z. Mathe

Er und andere Bürgermeister der Opposition hatten einen Brandbrief veröffentlicht, nachdem Viktor Orbán vom Parlament mit weitreichenden Machtbefugnissen ausgestattet worden war: Er kann per Dekret und ohne Ablaufdatum regieren "bis zum Ende der Gefahrenlage", betont Justizministerin Judit Varga. Wann die vorbei sei, bestimme das Parlament, so die Ministerin. Dort stärkt Orbán aber eine Zweidrittelmehrheit der Regierungsparteien den Rücken. Wahlen und Volksabstimmungen sind bis auf Weiteres ausgesetzt, die Opposition ist an die Seite gedrückt.

Rache für die Kommunalwahlen?

Dies kommt auch in den ersten Erlassen nach der Ermächtigung Orbáns zum Ausdruck. "Da waren auch Sachen dabei, die nichts mit Bekämpfung der Pandemie zu tun haben", betont der frühere Ombudsmann des Parlaments, Jenö Kaltenbach. So etwa der Vorschlag des Vizepremiers Zsolt Semjén, die Kommunen unter Kuratel zu stellen. "Auch der Konflikt mit der Hauptstadt soll jetzt per Gesetz gelöst werden", sagt Kaltenbach und verweist auf das Beispiel des Budapester Stadtwäldchens (Városliget). Mehrere Museums-Neubauten sollen dort entstehen, gegen den Willen der Budapester. Nach der Kommunalwahl im Herbst 2019 hatte der frischgewählte grüne Oberbürgermeister Gergely Karácsony deshalb das Projekt gestoppt. Jetzt soll die Uhr wieder zurückgedreht werden, per Dekret. Den politischen Parteien soll die Hälfte ihrer staatlichen Förderungen entzogen werden, das trifft besonders die kleinen Parteien der Opposition.

Durch eine Strategie der Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg hatten die Orbán-Gegner bei den Kommunalwahlen Bürgermeistersessel vor allem in den größeren Städten wieder erobern können - auch den der Hauptstadt Budapest. "Jetzt soll offenbar vieles, was die Opposition erreicht hat, wieder zurückgenommen werden", glaubt Kaltenbach, der mit anderen Bürgerrechtlern eine Online-Petition gegen die Ermächtigung Orbáns gestartet hatte. Mehr als 100.000 Ungarn haben sich daran beteiligt, "das ist eine ganze Menge für ein kleines Land wie Ungarn", meint der Jurist.

Angewachsen sei der Widerstand innerhalb weniger Tage. Nur: Bemerkt hat ihn in Ungarn kaum jemand. Alle sind mit dem Corona-Virus beschäftigt. Wenige Tausend Ungarn haben jetzt auch Petitionen gegen die Entmachtung der Kommunen gestartet. Ein Tropfen auf den heißen Stein. "Die aktuelle Lage gibt Viktor Orbán die Möglichkeit, seine Macht zu festigen", urteilt Péter Krekó, Direktor der Budapester Denkfabrik "Political Capital". 

Mit Starwars-Helden gegen die Pandemie

Der Regierungschef genießt sichtlich die neue Machtfülle. Auf seiner Facebook-Seite präsentiert sich der Regierungschef als Macher. Ein Video zeigt den Krisenstab als Team von Superhelden, von blau-grünem Lichtkranz umgeben, untermalt von dramatischer Musik - Regierungs-PR im Stil eines Starwars-Kino-Trailers. 

Gänzlich unbescheiden: Facebook-Post von Viktor OrbanBild: facebook.com/orbanviktor/videos

Die nahezu unendlichen Weiten der Macht hat Orbán seiner Zweidrittelmehrheit im Parlament zu verdanken - im zweiten Wahlgang reichte die. In der ersten Abstimmung eine Woche zuvor hatte er noch die Opposition für eine Verlängerung des zweiwöchigen Notstandes gebraucht. Aber die stellte Bedingungen für das Regieren per Dekret. "Wir hätten sogar eine Frist von 90 oder sogar 120 Tagen" akzeptiert, erklärt Tímea Szabó von der Oppositionspartei Párbeszéd (Dialog) im Fernsehsender ATV. Aber unbegrenzte Macht für Orbán ohne Ablaufdatum? Soweit wollte die Opposition sich nicht entleiben. Und das wirft ihr die Regierung jetzt vor.

"Vielleicht war das ja Orbáns Plan", orakelt Bertalan Tóth, Fraktionschef der Sozialisten im Fernsehsender ATV. Auf ihren Kanälen teilt die Regierung jetzt gegen ihre Kritiker aus - die Oppositionspolitiker im eigenen Land, die "Brüsseler Blase". Orbán witterte im freitäglichen Interview mit dem staatlichen Rundfunk ein "Soros-Netzwerk" dahinter. Regierungspolitiker entwerfen sogar eine Verschwörungstheorie, der Multimilliardär stehe auch hinter dem Kursverfall der Landeswährung Forint. Die Rechnung geht für Orbán offenbar auf: Nach einer Umfrage der regierungsnahen Denkfabrik Nézöpont unterstützen 78 Prozent der Ungarn die Pandemie-Maßnahmen der Regierung. "Da kann man schon von nationaler Einheit sprechen", kommentierte Direktor Ágoston Samuel Mráz im staatlichen Fernsehen die Ergebnisse.

Die Arbeit der Opposition finde dagegen nicht einmal unter den regierungskritischen Wählern jeder Zweite gut, so Mráz. Eine "echte Zusammenarbeit" wünscht sich Bezirksbürgermeister Niedermüller. Ungarn brauche in dieser Situation keinen Ministerpräsidenten mit zeitlich unbefristeten Sondervollmachten, sondern "eine einheitliche Strategie und die enge Zusammenarbeit mit den Kommunen". Wie Bürgermeister der Regierungspartei Fidesz die Situation einschätzen, war nicht zu ermitteln. Die angefragten Bürgermeister antworteten bis Redaktionsschluss nicht.