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Politik

Machtverschiebungen in Nahost

Kersten Knipp | Abderrahmane Ammar
10. Oktober 2019

Der Einmarsch türkischer Truppen in Syrien wird von arabischen Regierungen scharf kritisiert. Die Türkei kümmert das wenig. Sie hat eine Bewegung angestoßen, die die Kräfte in der Region verschieben könnte.

Syrien Tel Abyad | Konflikt Grenze Türkei | Syrische Kämpfer, unterstützt durch Türkei
Bild: Getty Images/AFP/B. Kilic

Angriffe türkischer Kampfjets auf Orte entlang der türkischen Grenze, tausende Menschen auf der Flucht: Die Militäroperation der Türkei im Norden Syriens hat begonnen. Luftwaffe und Artillerie hätten 181 Ziele der kurdischen "Volksverteidigungseinheiten" (YPG) getroffen, erklärte das türkische Verteidigungsministerium über Twitter. Vizepräsident Fuat Oktay zeigte sich zufrieden über die Militäroperation. Sie verlaufe nach Plan.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte erklärt, er wolle in dem von Kurden besiedelten Gebiet einen "Terror-Korridor" an der südlichen Grenze der Türkei auslöschen und dort Frieden schaffen. Dass ihm das gelingt, gilt vielen Beobachtern als zweifelhaft.

"Der türkische Militäreinsatz wird sich auf die Stabilität im gesamten Nahen Osten und die politische Situation auf lokaler und regionaler Ebene auswirken", sagt der libanesische Militärexperte Nizar Abdelkader im DW-Interview. Die Operation werde Leid und Elend zur Folge haben. "Die Syrienkrise wird noch komplizierter, und der Versuch, eine politische Lösung zu finden, wird kaum mehr möglich sein."

Im Kampf gegen den "Terrorkorridor": der türkische Präsident Recep Tayyip ErdoganBild: picture-alliance/dpa/AA/H. Sagirkaya

Ein Einmarsch und viele Verlierer

Die Auswirkungen der Operation sind schwer absehbar, heißt es in der britischen Online-Zeitung "Elaph". Die Kurden seien mitnichten die einzigen Verlierer der Operation. Vielmehr könnte diese auch den Erfolgen des internationalen Anti-Terrorkampfes einen schweren Schlag versetzen: Die in den kurdischen Gebieten einsitzenden Kämpfer der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) könnten das Chaos nutzen, um auszubrechen und sich in der gesamten Region zu verteilen.

Die Invasion schade aber auch der Türkei, da die Regierung der Bevölkerung einen "endlosen Krieg" gegen die Kurden aufzwinge, heißt es in "Elaph" weiter. Nachdem die USA die Kurden militärisch ausgerüstet und ausgebildet haben, erwartet die Zeitung nun einen lang anhaltenden Kampf. Der könnte für die Türkei zu einer Art "Vietnam" werden - sie also in einen zermürbenden Kampf führen, den sie kaum gewinnen könne.

Erste atmosphärische Auswirkungen der Operation zeigen sich bereits jetzt. So reagierte Erdogan auf harte Kritik sowohl der ägyptischen als auch der saudischen Regierung am türkischen Einmarsch seinerseits sehr scharf. An die Adresse des Kabinetts von Abdel Fatah al-Sisi in Kairo gewandt sagte er, Ägypten habe kein Recht, die Operation zu kritisieren: Die Regierung habe sich als "Mörderin" der Demokratie im eigenen Land erwiesen. Und mit Blick auf Saudi-Arabien: "Wer hat den Jemen in seinen derzeitigen Zustand gebracht?" Damit spielte er auf die von Saudi-Arabien angeführte internationale Militärkoalition an, deren überwiegend aus der Luft geführter Kampf gegen die aufständischen Huthis das Land in eine humanitäre Katastrophe gestürzt hat.

Neuausrichtung der Türkei?

Die Aussage dokumentiert, wie sehr Erdogan seine Haltung zum Krieg im Jemen geändert hat. Begrüßte er das Vorgehen der Koalition zunächst, wendet er sich nun gegen sie. Das ließe sich auch als leises Zeichen in Richtung Iran, den Gegenspieler Saudi-Arabiens, verstehen. Dieser hat die türkische Operation unter Hinweis auf die Gefahren für die Zivilbevölkerung zwar ebenfalls kritisiert. Zudem hielt der Iran ein größeres Militärmanöver an der Grenze zur Türkei ab. Gleichzeitig hieß es aus Teheran aber, man verstehe die Sorgen der Türkei bezüglich der Sicherheit ihrer südlichen Grenzen. Auch im Iran leben zahlreiche Kurden, ohne dass es allerdings zu derart gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen ist wie in der Türkei.

Im Gefecht: türkische Panzer in Nordsyrien, 9.10.2019Bild: picture-alliance/Zuma Press/Turkish Defense Ministry

Zur kurdischen Partei in Syrien (PYD) geht der Iran allerdings noch aus einem anderen Grund auf Distanz: "Während des Bürgerkriegs in Syrien wurde die PYD zum taktischen Partner Teherans im Kampf gegen den IS", sagt die türkische Politikwissenschaftlerin Gulriz Sen dem mit der Politik des Nahen Osten befassten Internet-Magazin "Al-Monitor". Nachdem der IS weitgehend besiegt wurde, seien der Regierung in Teheran die guten Beziehungen der kurdischen Partei zu den USA aufgestoßen. "Daher unterstützt sie die Aussöhnung zwischen den syrischen Kurden und dem Assad-Regime. Auf diese Weise will sie die Kontrolle über Syrien ausweiten und zugleich die Präsenz der USA in Syrien schwächen."

Machtverlust der arabischen Golfstaaten?

Wie immer sich die Achse Teheran-Ankara künftig entwickeln mag: Jene Staaten, die wie die Vereinigten Arabischen Emirate und vor allem Saudi-Arabien bislang ebenfalls im Syrienkrieg engagiert waren und dort auch gegen das Assad-Regime Dschihadisten unterstützen, haben offenbar das Nachsehen. Ihre Einflussmöglichkeiten gleichen denen der offen militärisch agierenden Türkei nicht im Ansatz.

Dies gilt umso mehr, als sich der bedeutendste Verbündete des Königreichs, die USA, aus Nordsyrien zwar nicht völlig, aber doch zu weiten Teilen zurückgezogen haben. In weiten Teilen der arabischen Presse wird der Rückzug als Verrat an den Kurden gesehen, die im Kampf gegen den IS ein enger Partner Amerikas waren.  "Dasselbe könnten sie auch mit anderen Partnern machen", heißt es in der arabischen Online-Seite "Rai al-youm". Die Gründe lägen auf der Hand, heißt es dort weiter. So hätten die USA inzwischen eine hohe Erdölförderung, die sie von Importen aus Nahost unabhängig machten. Außerdem müsste Washington sein Auge verstärkt auf das immer mächtigere China richten. Und schließlich hätten die Amerikaner während der Krise in der Straße von Hormus und der Raketenangriffe auf saudische Förderanlagen erkennen müssen, dass ihre Verteidigungswaffen nicht so effizient seien wie angenommen. Das schwäche sie zusätzlich. Trumps Absicht sei klar: "Er will seinen Verbündeten Waffen verkaufen - sie aber nicht unbedingt verteidigen."

Ohnmächtige Verteidigung: brennende Raffinerie im saudischen Abqaig (Archiv)Bild: AFP

Nachdenken über die Zukunft

Hat Saudi-Arabien demnach Anlass zur Sorge? Nein, sagt der saudische Strategie-Experte Hassan Dhafer Al-Shehri im Gespräch mit der DW. "Die Beziehungen des Königreichs zu den USA sind lang und tief." Es treffe zwar zu, dass sie derzeit im Ansatz erkaltet seien. Doch absehbar würden sie sich wieder normalisieren. Allerdings sei man in Riad auch nicht besorgt, sollte Washington von seinem Partner abrücken. "Denn es gibt Alternativen: Moskau, Peking und die Europäische Union."

Offen ist, wie sich das Verhältnis zu den potentiellen neuen Verbündeten gestalten wird. Offensichtlich ist hingegen: Das Nachdenken über neue Konstellationen in der Region hat längst begonnen.

Erdogans Syrien-Offensive: Wer zahlt den Preis?

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Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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