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Politik

Mehr Macht für Brasiliens Evangelikale

Thomas Milz
26. September 2018

Während die katholische Kirche seit den 1970er Jahren in Brasilien an Einfluss verliert, haben die evangelikalen Kirchen regen Zulauf. Nun zielen sie auf das höchste Staatsamt und könnten für einen Rechtsruck sorgen.

Brasilianische Pfingstkirchler Evangelikalen Messe Ekstase
Bild: AFP/Getty Images

Brasilien galt einst als "das größte katholische Land der Welt". Bis auf den evangelischen General Ernesto Geisel, der dem Land in der Zeit der Militärdiktatur von 1974 bis 1979 vorstand, hatte das Land nur katholische Staatsoberhäupter.

Bei der Stichwahl am 28. Oktober konkurrieren erstmals in der Geschichte Brasiliens zwei nicht katholische Kandidaten um das Präsidentenamt: Der evangelikale Jair Messias Bolsonaro, der streng katholische Bolsonaro erzogen wurde, sich aber 2016 von einem evangelikalen Pastor im Jordan taufen ließ. Und der spiritistisch geprägte Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT.

Im Jordan getauft: Brasiliens Präsidentschaftskandidat Jair BolsonaroBild: Getty Images/AFP/E. Sa

Die evangelikalen Kirchen haben seit Jahrzehnten regen Zulauf in Brasilien. Beim Zensus 2010 bekannten sich 42 Millionen Brasilianer (22 Prozent) zu ihrem christlich evangelikalem Glauben. Als katholisch bezeichneten sich 123 Millionen Brasilianer (64 Prozent). Derzeit liegt die Zahl der "evangélicos" bei rund 30 Prozent, schätzen Experten.

Von den 513 Abgeordneten des brasilianischen Parlaments gehören rund 100 der im Jahre 2003 gegründeten "bancada evangélica" an, wie der parteiübergreifende Zusammenschluss evangelikaler Politiker in Brasilien genannt wird. Im Senat sind fünf der insgesamt 81 Senatoren evangelikal. Nach dem Einzug Bolsonaros in die Stichwahl kündigten die Evangelikalen im Kongress bereits ihre Unterstützung an.  

Wettbewerbsfähig zur Exekutive

Bei den anstehenden Wahlen dürfte ihr Anteil wachsen. Allein die sozialliberale Partei PSL von Präsidentschaftskandidat Bolsonaro legte enorm zu und stieg mit 52 Abgeordneten zur zweitgrößten Fraktion im Kongress nach der Arbeiterpartei PT (57 Sitze) auf. Zum Vergleich: Bei den Wahlen 2014 gelang es PSL lediglich, einen einzigen Sitz im Parlament zu erobern. 

Ein Gradmesser für den Machtzuwachs der Freikirchen war auch 2016 die Wahl von Marcelo Crivella zum Bürgermeister von Rio de Janeiro. Crivella, Bischof der "Universalkirche vom Reich Gottes", konnte dabei auf die Macht der von seinem Onkel Edir Macedo gegründeten Pfingstkirche zählen, zu der auch ein TV-Sender namens "Rede Record" gehört. Pastoren sollen bei Gottesdiensten um Stimmen für Crivella geworben haben, berichten Medien.

Kirchengründer Edrir Macedo bei einer öffentlichen Feier seiner "Igreja Universal do Reino de Deus" Bild: Fernando Gabeira/Folhapress

Nicht alle evangelikalen Kandidaten haben derart einflussreiche und finanzkräftige Großkirchen im Rücken. Aber sie gewinnen Wähler aus der neuen unteren Mittelschicht, die während der Regierungszeit der brasilianischen Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores; 2003 bis 2016) stark gewachsen ist.

"Viele Geringverdiener und Angehörige der unteren Mittelschicht fühlten sich von den Versprechungen der evangelikalen Neo-Pfingstkirchen angesprochen", erläutert der Politikwissenschaftler Ricardo Ismael von der Katholischen Universität von Rio de Janeiro (PUC).

Suche nach moralischer Strenge

Besonders die ehemalige Landbevölkerung konnte in den letzten Jahrzehnten ökonomisch in eine neue Mittelschicht aufsteigen – und wählt nun eher rechts-konservativ. Jüngste Umfragen ergaben, dass evangelikale Wähler deutlich seltener linke Parteien wählen (sechs Prozent) als Katholiken (21 Prozent). "Der katholische Diskurs zielt eher auf soziale Fragen ab, auf die Rechte der Ärmsten", so Francisco Borba Ribeiro Neto von der Katholischen Universität von Sao Paulo (PUC-SP) Borba. "Währenddessen konzentriert sich der evangelikale Diskurs – und besonders der der Neo-Pfingstkirchen – auf moralische Werte."

Anders als die eher links wählenden armen Schichten, die von staatlicher Hilfe abhängig sind, ist die in die untere Mittelschicht aufgestiegene Bevölkerung nicht mehr auf direkte Hilfen des Staates angewiesen. "Die Neo-Pfingstkirchen haben in dieser neuen Mittelschicht eine Hegemonialstellung, und dort kümmern sie sich um moralische Werte, kämpfen gegen die Unsicherheit in den Städten und verlangen ein Ende des Sozialstaates – der ja ihre Bedürfnisse nicht mehr anspricht." 

Machtzuwachs: Die sozialliberale Partei PSL von Bolsonaro ist mit 52 Sitzen zweitstärkste Fraktion im ParlamentBild: Agência Brasil/R. Pozzebo

Die große Mehrheit der evangelikalen Politiker lehnt zudem die linke Minderheitenagenda ab, so Ismael. "Die evangelikale Fraktion hat sich gegen eine linke Agenda in Stellung gebracht, die für mehr Rechte für Minderheiten eintritt, für neue Familienformate, die Gender-Fragen und das Bildungssystem diskutieren wollen. Noch ist es zu früh um zu sagen, ob sie Erfolg haben werden, diese Agenda aufzuhalten. Aber Kraft und Einfluss, um hier mitzureden, haben sie."

Kommt nun ein evangelikales Staatsoberhaupt? "Bolsonaro reproduziert in seinem Diskurs evangelikale Predigten, wobei er sich in Fragen der Traditionen und Gewohnheiten gegen die linke Agenda stellt. Daher kommt seine große Zustimmung unter den Evangelikalen," so Ismael.

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