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PolitikEuropa

Frankreich: Ein Präsident sucht Rückhalt

Andreas Noll
14. Mai 2022

Nach seiner Wiederwahl startet Emmanuel Macron in seine zweite Amtszeit im Élysée. Doch der Präsident muss schon im Juni seine Macht verteidigen. Ein Rivale will Premierminister werden - und hat einen Coup gelandet.

Frankreich | Emmanuel Macron | Amtseinführung 2022
Nach der Wahl ist vor der Wahl: Staatspräsident MacronBild: Lewis Joly/AP Photo/picture alliance

Die Franzosen haben Emmanuel Macron gerade erst mit komfortabler Mehrheit (58,5 Prozent) im Amt bestätigt. Doch um regieren zu können, muss die Partei des Präsidenten noch die Parlamentswahlen in vier Wochen gewinnen. Einer gerade veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts ifop zufolge würde aktuell allerdings die Linke mit landesweit 28 Prozent die erste Runde der Parlamentswahlen im Juni gewinnen. Auf den Plätzen zwei und drei folgen das Bündnis um die Präsidentenpartei "Renaissance" und der extrem rechte Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen. Vor allem die Linke träumt nun von einer Kohabitation. Bei dieser in der V. Republik extrem seltenen geteilten Regierungsverantwortung muss der Präsident einen Premierminister aus dem gegnerischen Lager ernennen, weil er über keine eigene Mehrheit im Parlament verfügt. 

Ringen um die Macht: LFI-Chef Jean-Luc Mélenchon (li.) und Präsident Emmanuel Macron (2017)Bild: Reuters/L. Marin

Mit einer oppositionellen Regierung müsste Macron seine Reformagenda begraben. Die weit reichende Neuordnung des Rentensystems mit einer Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 65 Jahre wäre vom Tisch. "Macron würde dann noch einmal die symbolische Funktion des Präsidenten übernehmen und versuchen, so viel wie möglich Einfluss auf bestimmte Prozesse zu nehmen", skizziert Emmanuel Droit, Professor für Zeitgeschichte an der Hochschule Sciences Po in Straßburg, die möglichen Folgen einer solchen Kohabitation. "In dieser Konstellation wäre seine Macht aber sehr begrenzt."

Demokratie in der Krise

Doch auch eine deutliche Mehrheit der Opposition im ersten Wahlgang wäre keine Garantie für einen Regierungswechsel, denn gewählt wird in allen 577 Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlrecht. Wenn in der ersten Runde kein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht, gibt es eine zweite Runde der bestplazierten Kandidaten. Das macht die Vorhersage für die Demoskopen schwierig.

Aktuell versuchen sowohl der Rassemblement National als auch die Linkspopulisten von La France Insoumise (LFI) um den 70 Jahre alten Volkstribun Jean-Luc Mélenchon aus den Vorbehalten gegen Macron politisches Kapital zu schlagen und die Parlamentswahlen in vier Wochen zu einem "dritten Wahlgang" umzumünzen. Bei den beiden Wahlgängen der Präsidentenkür im April waren die Parteiführer auf den Plätzen zwei und drei hinter Macron gelandet - mit großem Abstand zum übrigen Bewerberfeld. Die jahrzehntelang staatstragenden Sozialisten und Konservativen verfehlten am Ende sogar die Fünf-Prozent-Hürde.

Will Regierungschef werden: Linkspopulist Jean-Luc MélenchonBild: Michel Spingler/AP Photo/picture alliance

Chancen auf das Amt des Premierministers hat allerdings lediglich Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon. Zwar hat Marine Le Pen in der Stichwahl mehr als 13 Millionen Stimmen auf sich vereinen und in 30 Départements gewinnen können, doch die Wahlaussichten ihres RN im Juni sind auch mangels geeigneter Kandidaten schlecht. Interimsparteichef Jordan Bardella präsentierte in dieser Woche bescheidene Ziele. Schon der Einzug in die Nationalversammlung in Fraktionsstärke mit mindestens 15 Abgeordneten wäre aus seiner Sicht ein Erfolg - aktuell hat die Partei neben dem von Marine Le Pen lediglich fünf weitere Sitze im Parlament. 

Wird in der Nationalversammlung keine breite Machtbasis erhalten: Marine Le PenBild: Francois Mori/AP Photo/picture alliance

Historisches Linksbündnis

Jean-Luc Mélenchon dagegen ist ein politischer Coup gelungen. Der EU- und Deutschlandkritiker hat mit Sozialisten, Kommunisten und Grünen das Wahlbündnis "Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale" (NUPE) geschmiedet. Ein Vorhaben, das noch vor wenigen Wochen als utopisch galt.

Die "neue Volksunion" stellt in den 577 Wahlkreisen nur jeweils einen Bewerber auf, damit sich die Parteien nicht gegenseitig die Stimmen abjagen. Mélenchon selbst wird nicht müde, sich als künftiger Premierminister anzupreisen, der einen radikalen Wandel in der Innen- und Außenpolitik verspricht. Eine konstruktive Zusammenarbeit Frankreichs mit der EU lehnt Mélenchon ab. Auch das Verhältnis zu Berlin würde leiden, da Mélenchon das deutsch-französische Tandem für komplett überholt hält.

Gegenwartshistoriker Droit erkennt aktuell eine politische Dynamik zugunsten Mélenchons, die zahlreiche linke Wähler mobilisieren werde. Ein Novum in der Geschichte der V. Republik, denn bislang blieben viele Anhänger unterlegener Bewerber bei den Präsidentschaftswahlen den Urnen fern, wenn wenige Wochen später das Parlament neu gewählt wurde. Auch dieses Verhalten sicherte dem Präsidenten in der Vergangenheit die zum Regieren notwendige Mehrheit in der Nationalversammlung.

Umstrittene Kooperation: Macrons Gegner wollen die enge Partnerschaft mit Berlin beendenBild: Lisi Niesner/REUTERS

Schwierige Prognosen

Trotz des Zulaufs für die Linke sagen ihr die Demoskopen allerdings aktuell keine Parlamentsmehrheit voraus. Zwischen 135 und 165 Sitzen könnte Mélenchon, der selbst kein weiteres Mandat anstrebt und sich lediglich als Premierminister "bereithält", erringen. Das hat eine Analyse des Meinungsforschungsinstituts OpinionWay in dieser Woche ergeben. Macrons Parteien-Allianz "Ensemble" dagegen würde demnach trotz der weit verbreitenten Kritik an dem Liberalen mit 310 bis 350 Sitzen die Parlamentsmehrheit verteidigen. So zumindest lautet der Zwischenstand vier Wochen vor der Wahl.

Auch Emmanuel Droit rechnet derzeit damit, dass Macron für seine zweite und damit laut Verfassung letzte Amtszeit eine Mehrheit im Parlament bekommt. Das Mehrheitswahlrecht führe dazu, dass sich am Ende das gemäßigte Politikangebot durchsetzt: "Ein Premierminister Jean-Luc Mélenchon würde bedeuten, dass die Franzosen mit 60 Jahren in Rente gehen könnten. Die Menschen wissen aber, dass das nicht machbar ist. Auch sein außenpolitisches Programm mit der massiven EU-Kritik und seine Nähe zu autokratischen Staaten stößt auf Vorbehalte."

Braucht Frankreich ein neues Wahlrecht?

Im politischen Alltag würde das Parlament bei einer breiten Macron-Mehrheit wohl auch in den kommenden fünf Jahren keine korrigierende Rolle im Machtkonzert übernehmen - trotz großer Widerstände gegen das Programm des Präsidenten in der Bevölkerung. "Wir haben in Frankreich eine Krise der repräsentativen Demokratie", beklagt Emmanuel Droit im DW-Gespräch.

"Die Parteien und Gewerkschaften erfüllen ihre Aufgabe als politische Vermittlungsinstanz nicht mehr. Und deshalb plädieren viele Politiker - nicht nur aus der Reihe vom RN und LFI, sondern auch im Lager des Präsidenten - für eine Wahlrechtsreform. Das Verhältniswahlrecht wäre dafür der Schlüssel."

Außerparlamentarische Opposition: Die Gelbwesten haben großes MobilisierungspotentialBild: Pascal Guyot/AFP

Heißer Herbst auf der Straße

Eine "Dosis Verhältniswahlrecht" hatte Macron schon nach seiner ersten Wahl vor fünf Jahren versprochen und diesen Vorschlag auch im aktuellen Wahlkampf wiederholt. Der Druck auf den Präsidenten in dieser Frage ist enorm, aber eine schnelle Entscheidung unwahrscheinlich. Absehbar scheint dagegen, dass sich die politische Opposition nach der Gelbwestenbewegung vor dreieinhalb Jahren auch in der zweiten Amtszeit von Macron erneut auf der Straße formiert. Emmanuel Droit: "Das muss man leider für den Herbst befürchten. Für viele Franzosen ist die Straße die letzte und einzige Lösung, um Protest zu artikulieren. Die Menschen in Frankreich sehen die Straße als Ort der Demokratie von unten."

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