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Politik

Madelaine Caracas: "Warum lebe ich noch?"

Gabriela Selser gg
18. April 2019

Die 20-Jährige gehört zu den Köpfen der Studentenbewegung in Nicaragua, die Mitte April 2018 die Proteste gegen das Regime von Präsident Ortega initiierte. Nun kämpft sie aus dem Exil für Demokratie in ihrer Heimat.

Oppositionelle Studentin Madelaine Caracas aus Nicaragua
Bild: privat

Madelaine Caracas hat ihre Mutter seit zwölf Monaten nicht mehr gesehen. Damals, Mitte April 2018, befand sich die junge Studentin im letzten Jahr ihres Kommunikationsstudiums und malte Ölbilder. Als die Studentenproteste in Managua ausbrachen, ließ sie ihre Bücher stehen und schloss sich den jungen Menschen an, die auf den Straßen Barrikaden bauten und sich schwer bewaffneten Polizeikräften entgegenstellten.

Am 16. Mai 2018 begann die erste Gesprächsrunde des nationalen Dialogs, die live im Fernsehen übertragen wurde. Tausende Nicaraguaner sahen und hörten wie Madelaine Caracas die Namen ihrer bei den Protesten getöteten Kommilitonen verlas. Sie sahen auch die versteinerten Mienen des anwesenden Präsident Daniel Ortega und seiner Frau, Vizepräsidentin Rosario Murillo.

Wenige Wochen später musste Madelaine ins Exil nach Costa Rica fliehen, das Land, das in den letzten Monaten mehr als 50.000 Nicaraguaner aufgenommen hat.

DW: Wie sehr hat Sie diese politische Krise persönlich betroffen? Was haben Sie gewonnen oder verloren? Und kann man diese Dinge überhaupt gegenrechnen? 

Madelaine Caracas: Das ist eine sehr schwierige Frage, denn die Krise betrifft uns alle in vielerlei Hinsicht. In meinem Fall sind es das Exil, die Bedrohungen und das Ausmaß der öffentlichen Exposition, die mir am meisten geschadet haben. Es sind die psychische Folter und die Drohungen. Die Tatsache, dass ich im Exil bin und meine Eltern keine Arbeit mehr haben, sich verstecken müssen und nicht mehr nach Hause zurückkehren können, verursacht einen emotionalen Stress, der schwer zu ertragen ist.

Es berührt mich auch, meine Freunde in Haft zu wissen, während ich gleichzeitig international mein Gesicht hergebe, um das anzuklagen. Und plötzlich fühle ich mich schuldig, dass ich noch am Leben bin. Es ist schrecklich, wenn man anfängt, sich diese Frage zu stellen: Warum lebe ich noch?

Ich habe auch viel Erfahrung gesammelt, weil ich mir nie hätte vorstellen können, dass ich als 20-Jährige plötzlich zu einer Aktivistin für Menschenrechte werde. Ich habe vor dem Europäischen Parlament gesprochen und vor den Vereinten Nationen. Ich habe jetzt eine sehr große Familie, da ich auf meinen Reisen immer bei den Familien nicaraguanischer Migranten untergekommen bin. Sie sind jetzt alle meine Familie. Ich habe jetzt viele Mütter, die sich aus der Ferne um mich sorgen, und ich habe Zuflucht in den verschiedensten Ländern der Welt.

Ich denke, dass es inmitten von Unglück und Schmerz keine Vorteile gibt, eher Lektionen. Ich hätte nie gedacht, dass ich in so kurzer Zeit und so früh, so viel über Politik, Diplomatie, Geschichte und internationale Beziehungen lernen müsste.

Proteste gegen die Regierung Ortega: Mehr als 300 Demonstranten wurden dabei seit April 2018 getötetBild: Image/Agencia EFE/J. Torres

Was geschah im April 2018 mit den Studenten in Nicaragua? Gab es ein plötzliches Erwachen eines sozialen Bewusstseins oder einen Überdruss angesichts der Machtverhältnisse im Land? 

Vor dem April 2018 gab es keine unabhängige, autonome Studentenbewegung, die die wahren Interessen der Studenten vertrat. Doch wir jungen Menschen fingen an, unsere eigene Rolle in diesem Staat zu hinterfragen. Wir fragten uns, warum wir zwar wählen durften, es jedoch immer nur denselben Präsidenten gab. In einem Land, in dem Wahlstimmen gefälscht werden, in dem eine alltägliche Gewalt herrscht und die Korruption jede staatliche Einheit durchdringt. Ein Land, in dem es keine Gerechtigkeit für misshandelte Frauen gibt und wo die Armee Bauern tötet, ohne dass Polizei oder Justiz antworten.

Viele dachten, wir jungen Menschen wären gleichgültig, aber das Land war im vergangenen April wir ein Schnellkochtopf, der kurz davor war zu explodieren. Der Brand im Reservat Indio Maíz, im Süden Nicaraguas, begann am 3. April. Von der Regierung protegierte Siedler hatten diese Brände gelegt. Dies löste die ersten Proteste aus. Dazu kamen die Demonstrationen für die Altersvorsorge, die Umwelt und für Frauenrechte. Viele von uns hatten die Nase voll von einem Präsidenten, der sich über alles stellte und nie auf das Volk hörte.

Welche Zukunft siehst du für Nicaragua?

Ich würde gern optimistisch sein, aber ich bin mir sicher, dass der Prozess des Aufbaus eines von uns gewünschten Landes viele Jahre dauern wird. Denn die große Herausforderung besteht nicht darin, Präsident Ortega loszuwerden, sondern darin, einen Staat mit neuen Institutionen aufzubauen, ohne Korruption oder Straffreiheit, und eine neue politische Kultur auf der Grundlage von Gerechtigkeit zu schaffen.

Wir müssen die Grundlagen schaffen, die Vergangenheit zu bewältigen, damit sich die Vergangenheit nicht wiederholt und wir in 40 Jahren wieder ein diktatorisches Regime haben. Nicaragua verdient Frieden, Demokratie und einen Wandel - weg von Autoritarismus, Machismus und Korruption, hin zu einer pluralistischen und vielfältigeren Nation, in der wir alle eine Stimme haben.

Madelaine Caracas gehört zu den prominentesten Vertretern der Studendenbewegung, die im April 2018 die Proteste gegen die Regierung begonnen hat. Wie rund 50.000 Landsleute hat sie das Land mittlerweile verlassen.

Das Interview führte Gabriela Selser.

Madelaine Caracas: "Ich würde gern optimistisch sein"Bild: privat

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