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Politik

Mafia-Skandal: "Voyeuristische Befriedigung"

18. Juni 2021

Der Mafiapate Sedat Peker packt auf YouTube über die krummen Geschäfte der Regierung aus - und erreicht Millionen. Psychiater Ilker Kücükparlak erklärt, was der Erfolg Pekers über die türkische Seele aussagt.

Türkei ultra-nationalistischer Verbrecherboss Sedat Peker
Der Mafiapate Sedat Peker hält mit seinen Enthüllungen ein ganzes Land in AtemBild: picture-alliance/AA/I. Yakut

Mit seinen Videobotschaften sorgt der Mafiapate Sedat Peker in den sozialen Netzwerken für Aufsehen. Neun Videos gibt es von ihm bereits auf YouTube - jedes davon ging viral und bestimmt seither die Schlagzeilen in der Türkei. In seinen Ansprachen macht er namhaften Politikern aus der Regierungspartei und regierungsnahen Personen ungeheuerliche Vorwürfe: Sie seien in Mord, Vergewaltigung, Drogenschmuggel, Machtmissbrauch und viele weitere kriminelle Machenschaften verwickelt.

Mit den Videos, die Pekermeistens sonntags veröffentlicht, hat der Mafioso ein ganzes Land in Ekstase versetzt - jedes weitere Video wird mit höchster Spannung erwartet. Seit Anfang Mai gibt es kaum ein anderes Thema, das so sehr die Schlagzeilen der Türkei bestimmt. Für den Psychiater Ilker Kücükparlak sagt der Fall Peker viel über die türkische Seele aus.

Der Erfolg Sedat Pekers ist auf den Voyeurismus im Menschen zurückzuführen, meint Psychiater KücükparlakBild: Privat

DW: Welche Rückschlüsse ziehen Sie aus Sedat Pekers Videos aus Ihrer psychologischen Perspektive?

Ilker Kücükparlak: Viele Menschen zeigen großes Interesse an Pekers Videos - für manche ist Peker sogar ein Sympathieträger geworden. Sedats Enthüllungsvideos sind ein weiteres Zeichen dafür, dass es eine zunehmende Polarisierung in der Türkei gibt.

Pekers YouTube-Videos haben bis jetzt fast hundert Millionen Abrufe gehabt. Wie ist die Faszination für seine Video-Botschaften zu erklären? 

 Es gibt einen Zustand, den wir als "pornografisch" bezeichnen könnten. "Was wird enthüllt?", "wer wird in die Enge getrieben?", "was passiert hinter verschlossenen Türen?". Es ist eine voyeuristische Befriedigung, durch eine geschlossene Tür sehen zu können. Die Leute geraten in Entzückung über die vielen Namen, die verunglimpft werden: die Minister, die Geschäftsmänner etc. Er versieht diese Persönlichkeiten mit unschönen Spitznamen, Herablassungen, Drohungen. Wahrscheinlich gibt es in weiten Teilen der Gesellschaft daher diese Begeisterung für diese Videos. Daraus kann auch Sympathie für ihn entstehen.

Besonders über Innenminister Süleyman Soylu packt Peker aus

Könnten Sie Ihren Gedanken, dass die Enthüllungsvideos den Voyeurismus im Menschen wecken, weiter ausführen?

 Es gibt eine Art Befriedigung, wenn man miterlebt, was hinter der Tür eines "elitären Clubs" passiert. Viele Fernsehsendungen, die in unserem Land mit Leidenschaft gesehen werden, basieren auf voyeuristischen Trieben. Zum Beispiel die Reality-Show "Survivor". In der Sendung kommen auch immer wieder Enthüllungsvideos vor. Es wird eine enorme Dynamik dadurch erreicht, dass aus der voyeuristischen Befriedigung ein phänomenales Fernsehereignis gemacht wird. Ich denke, dass Pekers Videos einer ähnlichen Dynamik entspringen.

Könnte dieser Voyeurismus etwas mit dem beschädigten Gerechtigkeitsgefühl in der Gesellschaft zu tun haben?

Diese Person hat sich noch bis vor kurzem bei diversen Kundgebungen für die Regierung ausgesprochen. Im Namen der Regierung drohte er der regierungskritischen Initiative "Akademiker für den Frieden" damit, "in ihrem Blut zu baden". Die Enthüllungen eines Insiders haben natürlich schwerwiegende Folgen. Es ist authentisch, weil ein Insider einen Teil der Wahrheit enthüllt und gleichzeitig seine eigene Schuld bekennt.

Worauf führen Sie die Sympathie, die manche Leute für Peker empfinden, zurück?

Er ist ein guter Redner, der Emotionen instrumentalisieren kann. Nur wenige Politiker sind in der Lage, Emotionen zu instrumentalisieren. Er ist authentisch: Er wird wütend, wenn er wütend sein sollte. Er wirkt emotional, wenn er berührt sein sollte und so weiter. So machen das auch Sektenführer übrigens. In all seinen Reden steckt eine gewisse Emotion - Inhalte verlieren an Bedeutung.

Welche Emotionen spricht Peker am meisten an?

Er ist mal wütend, mal amüsiert. Manchmal ist er spaßig. Er zeigt sich entschlossen. Manchmal betont er sein persönliches Leid und zieht dafür eine Opferhaltung heran. Dann wird er wieder wütend. Das meine ich damit, dass er Emotionen instrumentalisiert. Es bleibt nie bei einer Stimmung. Erst präsentiert er sich mit Trauer oder Traurigkeit, dann präsentiert er sich wieder mit einer immensen Wut, Groll und Energie, sodass wir in ihm kein Opfer oder verlorenen Mann sehen.

Haben Sie den Eindruck, dass Peker als Mafioso besonders für junge Männer als "Vorbild" dient?

Am Anfang war er besonders für sie ein Vorbild, denn er zeigte seine wütende, nachtragende Seite. Doch es ist nicht die Figur des machohaften Nachbarsjungen, der mithilfe von Kriminalität die gesellschaftliche Hierarchie emporkam, mit der er Sympathien sammelt. Auch Leute, die mit so etwas nichts am Hut haben, sympathisieren mit ihm.

 

Aus dem Türkischen adaptiert von Daniel Derya Bellut.