Weihnachtsmarkt-Prozess: "Dann habe ich einfach Gas gegeben"
11. November 2025
"Ich bin derjenige, der das Auto gefahren hat", sagte der Angeklagte schon am ersten Tag im Prozess um den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg am 20. Dezember 2024. Dabei waren ein neunjähriger Junge sowie fünf Frauen im Alter von 45 bis 75 Jahre zu Tode gekommen, über 300 hatten teilweise schwere Verletzungen erlitten.
Am Dienstag redet der aus Saudi-Arabien stammende Taleb A. über seine Motive: Ihm sei es um Aufmerksamkeit für seine Anliegen gegangen, unter anderem den Schutz saudi-arabischer Frauen. "Ich wollte einfach, dass die Welt mich hört, dass wir leiden, dass wir verfolgt werden", sagt Taleb A. über die Lage in seinem Heimatland.
War der Weihnachtsmarkt ein zufälliges Ziel?
Als weiteres Motiv nennt er Frust über deutsche Behörden wie Polizei und Staatsanwaltschaft. Die hätten ihm bei seinem Engagement gegen eines aus seiner Sicht "korrupten" Kölner Flüchtlingshilfeverein nicht geholfen, sondern sogar gegen ihn selbst ermittelt.
Für seine Anschlagspläne sei er zwischen August 2023 und Dezember 2024 mehrfach nach Magdeburg gefahren. Ziel seines Angriffs hätte auch die Staatsanwaltschaft oder ein Café in der Innenstadt sein können. Dass er schließlich mit einem Mietauto über den Weihnachtsmarkt raste, stellt der 51-Jährige als spontane Entscheidung dar.
"Es war mir egal, ob Menschen sterben"
Auch über seine Gefühlslage während des Anschlags spricht Taleb A.: "Es war mir egal, ob Leute verletzt werden oder ob Leute sterben". In den letzten Sekunden vor seiner Tat seien ihn hundert Gedanken durch den Kopf gegangen. "Dann habe ich einfach Gas gegeben."
Verletzte oder getötete Menschen will der Angeklagte nicht wahrgenommen haben. Erst später seien ihm Erinnerungen an die Tat und damit auch Bilder von Opfern gekommen: "Ich habe eine Frau gesehen, die über die Windschutzscheibe gerutscht ist."
Parallelen zum Attentat auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin
Ein Auto als Tatwaffe weckt Erinnerungen an das Attentat des Islamisten Anis Amri auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Der später auf der Flucht in Italien erschossene Tunesier raste im Dezember 2016 mit einem Sattelschlepper in eine Menschenmenge, tötete zwölf Menschen und verletzte 67 zum Teil schwer. Außerdem ermordete Amri den Fahrer des gestohlenen Fahrzeugs.
Noch tödlicher war die Bilanz des ebenfalls religiös motivierten Anschlags, den ein Landsmann Amris im Juli desselben Jahres ebenfalls mit einem Lastwagen in Nizza verübt hatte: 86 Tote und über 400 Verletzte.
Acht Jahre später ist wieder Deutschland Tatort, dieses Mal Magdeburg. Der Angeklagte hat den Ermittlungen zufolge während seiner Amokfahrt nicht unter Alkoholeinfluss oder Ähnlichem gestanden. Tatmotiv soll Unzufriedenheit und Frustration über den Verlauf und den Ausgang eines zivilrechtlichen Streitfalls gewesen sein sowie die Erfolglosigkeit mehrerer von ihm gestellter Strafanzeigen.
Taleb A. kam 2006 nach Deutschland und arbeitete als Facharzt
Das Profil des Angeklagten passt nach dem, was über ihn bekannt ist, in kein typisches Schema. Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, und andere Islamisten waren als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Taleb A. hingegen lebt seit 2006 hier und arbeitete zuletzt als Facharzt in einer Einrichtung für psychisch kranke Straftäter in Bernburg (Sachsen-Anhalt).
Offenbar hat der mutmaßliche Täter auch selbst schon länger gesundheitliche Probleme. Das legen Erkenntnisse aus dem Parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Landtag von Sachsen-Anhalt nahe. In dem Gremium soll auch geklärt werden, warum der Weihnachtsmarkt in Magdeburg nicht ausreichend mit Pollern gesichert war. Solche Betonblöcke sind seit dem Attentat auf dem Breitscheidplatz Standard.
Amokfahrt mit 48 Stundenkilometern
Taleb A. nutzte eine Sicherheitslücke aus und raste den Ermittlungen zufolge mit bis zu 48 Stundenkilometern durch die Menschenmenge. Laut einem Bericht der Welt soll die Todesfahrt keine spontane Tat eines verwirrten Einzelgängers gewesen sein, sondern ein geplanter Terrorakt. Das gehe aus einem Gutachten der Fachstelle für Gewalt- und Radikalisierungsprävention, SALAM, in Sachsen-Anhalt hervor.
Demnach sehe sich Taleb A. selbst als Teil eines internationalen rechtsextremen Netzwerks. Der Angeklagte habe im Internet massenhaft Inhalte von bekannten rechten Akteuren und Verschwörungstheorien über eine angebliche "Islamisierung Europas" geteilt. Außerdem soll er Sympathisant der vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Alternative für Deutschland (AfD) sein.
Sicherheitsbehörden hielten Anschlag für möglich
In Sachsen-Anhalt gab es nach Angaben der Polizei in den Jahren 2023 und 2024 mehrere sogenannte Gefährderansprachen. Als Gefährder werden Personen bezeichnet, denen Anschläge zugetraut werden. Allerdings habe der Verdächtige keiner Kategorie wie Islamist, Rechts- oder Linksextremist zugeordnet werden können.
Die komplexe Gemengelage einerseits und die Dimension der Tat andererseits spiegeln sich auch im Prozess wider. Wegen der großen Zahl von Verfahrensbeteiligten, darunter über 140 Nebenkläger, wurde eine neu gebaute Leichtbauhalle angemietet. Bis März 2026 sind fast 50 Verhandlungstage angesetzt.
Lebenslange Freiheitsstrafe plus Sicherungsverwahrung?
Die Anklage hat über 400 Zeugen benannt. Taleb A. befindet sich seit dem Tag des Attentats in Untersuchungshaft. Im Falle seiner Verurteilung muss er mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes rechnen. Zudem droht ihm die sogenannte Sicherungsverwahrung. Sie dient nach Verbüßung der Strafe dazu, die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen. Das ist die schärfste Sanktion, die es im deutschen Strafrecht gibt.
Dieser Artikel wurde am 09.11.2025 veröffentlicht und nach dem Beginn des Prozesses zuletzt am 11.11.2025 aktualisiert.