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Politik

Malen ohne Stifte

Janka Vogel
21. Februar 2020

Ohne eine langfristige EU-Politik zur Inklusion der Roma wird die Diskriminierung dieser größten europäischen Minderheit weiter andauern. So das Fazit einer Konferenz der Südosteuropa-Gesellschaft in Berlin.

Armut im Roma-Viertel "Nadezhda" ist allgegenwärtig
Armut im Roma-Viertel "Nadezhda" ist allgegenwärtigBild: DW

"Seid ihr gut drauf?", ruft der Bürgermeisterkandidat. Tausende Menschen sind an diesem Abend in der bulgarischen Stadt Sliven versammelt, ausgestattet mit Plakaten. Erwartungsvolle Gesichter, manche grölen. Popkonzertstimmung. Es ist das Jahr 2010 und in Bulgarien finden im nächsten Jahr Präsidentschafts- und Kommunalwahlen statt. Der Kandidat heißt Kantschev. Sprechchöre. Er wird den bisherigen Amtsträger Letschkow, gegen den zum damaligen Zeitpunkt ein Verfahren wegen Amtsmissbrauchs läuft, beerben.

Er hat sich seinen Wahlsieg etwas kosten lassen. "6.000 Zigeuner-Stimmen, das ist viel Geld", kommentiert ein Bewohner des Viertels, in dem der Bürgermeister seinen Popkonzert-Wahlkampf veranstaltete. Es ist das Viertel Nadezhda im östlichen Zentralbulgarien. In der Landessprache - und in nahezu allen slawischen Sprachen - bedeutet der Name "Hoffnung".

Dabei ist Nadezhda alles andere als ein hoffnungsvoller Ort. Der Film "Die Stadt der Roma", eine Arte-Dokumentation, zeigt das Leben der Menschen in dem Randviertel von Sliven. Er begleitet den Roma-Schulmediator Angel auf seinem morgendlichen Weg durch Nadezhda. Unbeleuchtete, enge, vermüllte Gassen, in denen bei Regen die Pfützen meterlang werden und ein Vorankommen im Schlamm fast unmöglich wird. Nadezhda ist ein Getto, wahrscheinlich eines der größten seiner Art auf dem Balkan.

Diskriminierung im Alltag

Genaue Zahlen der Bewohner kennt niemand. Und dass es immer mehr werden, die sich diesen engen, staubigen Raum teilen müssen, liege auch daran, dass viele ihre Kinder sehr jung verheirateten, meint ein Bewohner, der als Musiker versucht genug Geld zu verdienen, um mit seiner Frau einmal in den Urlaub fahren zu können. "Jeden Tag Hochzeiten - und kein Ende in Sicht", sagt er. Im einzigen öffentlichen "Café" des Viertels kocht und verkauft seine Frau Stefka Suppe für umgerechnet 0,60€ die Portion.

Geiger hilft Roma-Kindern aus dem Ghetto

04:03

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Der Film zeigt das, was auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern ein drängendes Problem darstellt: die schulische Segregation von Roma-Kindern. Schulmediator Angel begleitet die Kinder aus Nadezhda allmorgendlich auf dem Weg zur Schule, er holt sie aus ihren Hütten, fährt mit ihnen im Bus mit und bringt sie in die Unterrichtsräume der Schule.

"Spielt mit den anderen Kindern!"

In der Schule Nr. 6 sitzt Elena und schaut ihrer Banknachbarin beim Malen zu. Manche Kinder haben ihre Zeichnung schon fertig, da bemerkt die Lehrerin, dass Elena sich nicht rührt und fragt, ob sie Stifte habe. Das Kind verneint, es schämt sich. Viele bulgarische Eltern würden ihre Kinder nicht mehr in dieser Schule anmelden wollen, wenn da auch Roma-Kinder mitlernen  würden, erklärt der Direktor. Er setzt wenig Hoffnung in die Kinder aus Nadezhda, geht er doch davon aus, dass es eine "genetische Veranlagung" bei Roma gebe, "die sie gegenüber jeder Form von Bildung skeptisch macht". In der Schule Nr. 6 waren es an diesem Tag fehlende Stifte.

Angel wünscht sich vor allem eins: "Die Kinder müssten auf alle Schulen verteilt werden". So war es früher im Kommunismus, so müsse es wieder werden. Und das Getto Nadezhda, eine "No-go-Area" für die bulgarische Bevölkerung von Sliven, solle sich gegenüber der anderen Menschen öffnen. Angel dreht den Spieß einfach um. Er kennt die meterhohe Mauer, die das Viertel vom Rest der Stadt trennt, er kennt die Roma-Klassen. Und er spricht dennoch nicht davon, dass die Anderen hier etwas verändern müssten, sondern macht die Veränderung von ihnen selbst, den Menschen in Nadezhda abhängig. "Spielt mit den anderen Kindern!", ruft er den Roma-Kindern nach, als er sie auf dem Schulhof verabschiedet.

Die Roma-Strategie - eine europäische Aufgabe

"Die Stadt der Roma" bildete den Auftakt einer internationalen Fachkonferenz, die die Südosteuropagesellschaft (SOG) in Zusammenarbeit mit dem katholischen Hilfswerk Renovabis und gefördert von der Freudenbergstiftung vom 10. bis 12. Februar in Berlin durchgeführt hat. Die Tagung hatte unter dem Motto Gut gemeint - gut gemacht? Roma aus Südosteuropa und Ungarn: Ihre Erfahrungen mit "Hilfen zur Selbsthilfe" europäische Expertinnen und Experten aus der Arbeit für und mit Roma versammelt.

Anhand von Praxisbeispielen aus Bulgarien, Rumänien, dem Kosovo, Serbien, Nordmazedonien, Ungarn und Deutschland konnte gezeigt werden, welche Ansätze zur Förderung der größten ethnischen Minderheit Europas wirkungsvoll sind. Vor allem in Bezug auf politische Maßnahmen wie etwa die EU-Strategie zur Inklusion der Roma und die EU-Roma-Dekade (2005-2015) zogen die Teilnehmenden auf dem abschließenden Podium eine kritische Bilanz. Nicht zuletzt stellte sich ein Thema als große Herausforderung dar, dem nicht mit befrristeten Maßnahmen für die Minderheit der Sinti und Roma beizukommen sein dürfte: die weit verbreitete und teils sogar zunehmende Diskriminierung, von der diese Minderheit europaweit betroffen ist.

Gudrun SteinackerBild: DW/P. Stojanovski

Gudrun Steinacker, Botschafterin a. D. und SOG-Vizepräsidentin, betonte im DW-Gespräch, die Lebenssituation dieser europäischen Minderheit, die über viele Staaten verteilt und sehr divers sei, müsse langfristig verbessert werden. Das ginge nicht über zeitlich befristete Projekte: "An Deutschland werden jetzt viele Erwartungen gerichtet, weil Deutschland ab dem Sommer die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt und die Aufgabe hat, die Roma-Strategie der EU fortzusetzen bzw. eine nachfolgende Strategie auszuarbeiten. Da erwarte ich, dass es eine richtige, kohärente, auch langfristig angelegte Politik gibt - z. B. mit dem Ziel,  dass in zehn oder fünfzehn Jahren mindestens 50 Prozent der Roma in Europa auf demselben Standard leben in ihren Ländern wie die Mehrheitsbevölkerung - einschließlich Bildung, Berufstätigkeit, Gesundheitswesen." Das wäre ein politisches Ziel, das die EU mit den entsprechenden Mitteln durchaus erreichen könne, so Steinacker.

 

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