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KunstEuropa

Belgien feiert 75. Todestag von James Ensor

12. Januar 2024

Der belgische Künstler gilt als Vorläufer des Surrealismus. Im November jährt sich sein Todestag zum 75. Mal. Ein Besuch in seiner Geburtsstadt Ostende, wo das Jubiläumsjahr startet.

James Ensor Skeletons Fighting over a Pickled Herring 1891
James Ensors "Skelette streiten sich um einen eingelegten Hering" von 1891Bild: Fine Art Images/Heritage Images/picture alliance

Ostende präsentiert sich an diesem Nachmittag im Winter nicht gerade als "liebes buntes Blümchen", wie der Maler James Ensor seine Heimatstadt an der flämischen Nordseeküste einst nannte. Tiefschwarz hängen die Wolken über dem Strand, der sich zwischen den Niederlanden im Osten und Frankreich im Westen erstreckt. Vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg galt Ostende als "Königin der Seebäder". Heute ist der Küstenstreifen mit Ferienappartementhäusern zugebaut. Hier, im charmant-verschlafenen Ostende, lebte der Maler James Ensor von seiner Geburt am 13. April 1860 bis zu seinem Tod am 19. November 1949, mit nur wenigen Unterbrechungen - wie einem dreijährigen Kunststudium im rund 100 Kilometer entfernten Brüssel.

Das Leben ist ein Maskenspiel für James EnsorBild: Toerisme Oostende vzw/James Ensorhuis/Nick Decombel Fotografie

Ensors Wohnhaus in der Vlaanderenstraat liegt in zweiter Reihe. Im Souvenirladen im Erdgeschoss verkaufte seine Mutter ausgestopfte Krokodile, Waffen aus der Kolonialzeit und Karnevalsmasken. Diese Wunderkammer voller Kuriositäten wurde authentisch restauriert und ist eine der Hauptattraktionen des Hauses von James Ensor. Es wurde 2020 als Museum wiedereröffnet.

Blauer Salon im Ensor-Haus in OstendeBild: Nick Decombel Fotografie

Der Rundgang führt vorbei an Reproduktionen seiner wichtigsten Werke und in den blauen Salon, der Ensor auch als Atelier diente. Eine perfekte Einführung in das Leben des radikalen Einzelgängers, der in Ostende mit seiner Mutter, seiner Tante und seiner Schwester unter einem Dach lebte. Die Familie lebte von den Einnahmen der Souvenirläden, von denen es in Ostende sechs gab. Drei davon waren bis zum Tod des Vaters im Besitz der Ensors. Die hier angebotenen Waren wurden eine wichtige Inspirationsquelle für James Ensor, ebenso wie der örtliche Karneval.

Ensors Bilder vermischen Karneval und Realität

Manchmal scheinen die Grenzen zu verschwimmen und man fragt sich, was wahrer ist - der Karneval oder die Realität. Ensors Bildrepertoire von Skeletten, Marionetten, Totenköpfen oder Karnevalsmasken, die er in aller Schärfe festhielt, ist ebenso böse wie legendär. Obwohl Ensor Atheist war, nahm er in seinen Bildern häufig Bezug auf die Passion Christi.

Das Ensor-Haus wurde um ein Museum erweitertBild: Nick Decombel Fotografie

Sein berühmtestes Gemälde, "Der Einzug Christi in Brüssel", hängt als Reproduktion im Ensor-Haus, das Original befindet sich in Los Angeles und reist nicht mehr. Dass er von der Religion nicht viel hielt, zeigt er in seiner Zeichnung "Kalvarienberg": Der Künstler selbst hängt anstelle Christi am Kreuz und wird auf der Inschriftentafel darüber statt mit INRI mit ENSOR bezeichnet.

Seine Masken machten Ensor populär

Einst galt Ensor als Exzentriker, heute zählt er zu den Klassikern der Moderne. Hätte er sich nicht wie eine Muschel in ihr Gehäuse in Ostende zurückgezogen, wäre sein Ruhm heute ein anderer, ist sich Xavier Tricot, Kurator des Ensor-Hauses, sicher. Denn künstlerisch war er seinen Zeitgenossen weit voraus. "Ensor war ein Sonderling, der immer mit zwei kleinen Hunden an der Leine und einem gelben Regenmantel herumlief. Die Leute haben den auffallend großen Maler schräg angeschaut", erzählt Xavier Tricot beim DW-Gespräch im Ensor-Haus.

Und der Maler blickte "schräg" zurück, wie in dem Gemälde "Die Badenden von Ostende", das wie eine Karikatur auf die Freizeitsucht der Sommerfrischler am Strand wirkt. Inspiriert von Karikaturen und Wandkritzeleien schuf Ensor 1890 ein bruegelhaftes Panorama des verklemmten und enthemmten Strandvergnügens: Die Umkleidekabine, in der sich der ewig keusche Ensor als Voyeur porträtierte, trug einst die Nummer neunundsechzig, das Erkennungszeichen eines Bordells, bevor die Endziffer zur Acht geändert wurde.

Ostende zeigt Ensors Stilllebenmalerei

Die Gegenstände des elterlichen Souvenirladens tauchen von Anfang an als Motive in seinen Bildern auf. Auch in seinen Stillleben, wie die Ausstellung "James Ensor und das belgische Stillleben" zeigt, die derzeit in Ostende zu sehen ist. Das Museum MuZee, nur wenige Straßen von Ensors Wohnhaus entfernt, präsentiert erstmals 50 seiner Stillleben im Kontext der belgischen Zeitgenossen.

James Ensor setzte neue Maßstäbe mit seiner MalereiBild: Gérald Micheels

"Ensor ist ein Maßstab für das, was andere machen - man kann die Qualität vergleichen und gleichzeitig zeigen, dass Ensor ein Umfeld hatte, dass er kein einsamer Reiter in der Wüste war", sagt Kurator Bart Vershaffel im DW-Interview. Bis ins hohe Alter probierte Ensor neue Stile und Techniken aus. Deshalb lassen sich seine Stillleben auch nicht in eine Schublade stecken.

Veränderung der Farbpalette zur Jahrhundertwende

Schon früh entwickelt er eine Vorliebe für Travestie und Verwirrung und drapiert in seinen sorgfältig komponierten Bildern Motive, die zu seinem Markenzeichen werden: Muscheln, Totenköpfe, Skelette, Chinoiserien und Karnevalsmasken. Ensor mischt sie mit typischen Vergänglichkeitsmotiven wie Spielkarten, verwelkenden Blumen oder Totenköpfen. Der französische Impressionismus und Neoimpressionismus inspirierten ihn zu Experimenten mit den atmosphärischen Phänomenen des Tageslichts.

Selbstporträt als malendes Skelett, 1896Bild: Rik Klein Gotink/collectie KMSKA

Die Ausstellung verfolgt Ensors Entwicklung von den akademischen Stillleben in dunklen Tönen vor 1890 bis zum Einfluss des Impressionismus. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verändert Ensor seine Farbpalette. Er verwendet reine Farben, Rot, Gelb, Blau. Und er trägt sie pastos auf. So leuchtet in einem Gemüsestillleben der rote Kohl neben einer gelben Zitrone auf einem blauen Tischtuch. Es geht Ensor nicht um eine naturgetreue Wiedergabe, sondern um Dynamik und Individualität des Dargestellten, was alle seine Stillleben auszeichnet.

Ensor war weder Symbolist noch Impressionist

Bart Vershaffel sieht in Ensor einen "Vorläufer des Expressionismus", vor allem wegen seiner provokanten Farbkombinationen und des kräftigen Pinselstrichs. Das Bürgertum Ostendes reagierte entsetzt auf seine gewagten Stillleben, und auch die Kunstkritiker rieten ihm, "zur Tradition zurückzukehren", so Xavier Tricot. Voller Lust an der Satire malte er Blumensträuße ebenso auf die Leinwand wie Totenköpfe mit Zigarette im Mund. Ein grandioses Motiv ist auch das Porträt eines flirtenden Rochens - fast lasziv streckt er dem Betrachter sein Unterteil entgegen. Immer wieder tauchen geöffnete Augen von Fischen auf. "Sie schauen noch, obwohl sie tot sind", so Vershaffel.

Feixender Rochen - eine sexuelle Anspielung?Bild: J. Geleyns - Art Photography

Ohnehin griff Ensor mit seinen Werken frech die Oberschicht an und machte sich keine Freunde, wenn er Muscheln als Symbol für das weibliche Geschlecht in seine Bilder pinselte. Zur Sexualität hatte Ensor, der bis zu seinem Tod mit seiner Schwester unter einem Dach lebte, ohnehin ein ambivalentes Verhältnis. Anfangs wollte niemand seine ins Surreale kippenden Werke kaufen. Doch die Aufregung legte sich und Ensor kam in Mode. Unter Künstlern galt er längst als Leitstern: Wassily Kandinsky, Édouard Vuillard, Erich Heckel, Guiseppe Ungaretti und viele andere reisten nach Ostende, um Ensor persönlich in seinem Haus in Ostende zu besuchen.

Die Ausstellung im MuZee zeichnet den Weg seiner künstlerischen Entwicklung nach, immer im spannenden Vergleich mit den Motiven der Zeitgenossen James Ensors, die dem raffinierten Einzelgänger aus Ostende nur selten das Wasser reichen können.

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