Mangroven als Lebensversicherung
17. April 2013Es ist lang und schmal und wirkt wackelig, unser Boot, mit dem wir gleich aufbrechen werden. Doch die breiten Bambus-Ausleger zu beiden Seiten stabilisieren es auch bei höherem Wellengang, meint unser Begleiter. So lange kein Ausleger bricht, gibt es kein Problem. Das soll zwar bei stürmischem Wetter schon mal vorkommen - doch heute haben wir Glück, denn es weht nur eine angenehme Brise.
Bootsfahrt in den Morgen
Wir stehen am Hafen von Sagay auf der philippinischen Insel Negros. Es ist 6.30 Uhr morgens, kurz nach Sonnenaufgang. Trotzdem fahren schon viele Boote auf dem Wasser, Fischerboote oder Boote, die Menschen und Waren transportieren. Manche sind nicht mal einen halben Meter breit, aber alle stabilisiert durch große Ausleger aus Bambus.
Unser Ziel ist die Fischerinsel Molocaboc, knapp eine Stunde Bootsfahrzeit von der Kleinstadt Sagay entfernt. Dort werden wir den Bürgermeister treffen, der uns stolz zeigen will, wie sich das Leben der Fischerfamilien in den letzten Jahren verbessert hat - und das durch konsequenten Naturschutz. Wir, das sind Kameramann Tim und Tonmann June aus Manila, Terence von der GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit) von Negros und ich, der Deutsche Welle Reporter aus Berlin. Nachdem Tim das weiche Morgenlicht für einige schöne Aufnahmen genutzt hat, gehen wir aufs Boot. Die Schwimmwesten brauchen wir heute nicht zur Sicherheit , sondern nur um Kamera und anderes Equipment vor Spritzwasser zu schützen.
Ernte aus "magischen Löchern"
Bei unserer Ankunft in Molocaboc erwartet uns der Bürgermeister schon am Ende des langen Bootstegs, umringt von einer Menschenmenge. Neben dem Steg arbeiten drei Fischer mit Taucherbrillen im mehr als hüfthohen Wasser. Sie haben ein Netz um einen kleinen Bereich gezogen, aus dem sie jetzt Steine, aber auch Autoreifen hochtauchen und zur Seite werfen. Das sei ein "Magic Hole" erzählt uns der Bürgermeister. Die Hälfte aller Fischer auf Molocaboc, rund 1000, hätte bereits so ein "Magic Hole". Und darin könnten sie auch Fische fangen, wenn das Wetter zu stürmisch ist, um mit den Booten aufs Meer zu fahren. Das sichert ihnen ein zusätzliches Einkommen.
Fische im seichten Wasser statt auf dem Meer zu fangen, erscheint auch mir leichter. Doch wie das so einfach gehen soll, verstehe ich nicht. Und so erklärt der Bürgermeister weiter: Viele Fische sind territorial, das heißt, sie brauchen - wie die meisten Menschen - ein Zuhause, das ihnen Schutz und Zuflucht bietet und in das sie immer wieder zurückkehren. Und dieses Wissen nutzen die Fischer jetzt für sich, indem sie Fischen ein schönes Zuhause bauen: Einen Schutz aus Steinen, Autoreifen und Ähnlichem, der die Fische anlockt. Und dann geht alles fast von selbst. Bei Flut sind die Fische unterwegs, um Nahrung zu suchen – bei Ebbe dagegen halten sie sich in ihrem felsigen Zuhause auf, wo sie vor Feinden sicher sind. Aber nicht vor den Menschen, die von Zeit zu Zeit den künstlich geschaffenen Schutz abfischen können. Und siehe da: Die Fischer ziehen auch diesmal ein volles Netz aus dem Wasser, das sie zu zweit kaum heben können.
Früher war vieles schlechter
Das Leben der Fischer auf Molocaboc ist zwar immer noch hart. Aber es ist kein Vergleich zu den 1970er Jahren, sagt der Bürgermeister, Alfredo Maranon, der damals seine erste Amtszeit hatte. Die 70er Jahre, das war die Hochzeit der Dynamitfischerei und damit auch die Zeit der Einarmigen und der Witwen, erzählt er weiter. Denn nicht immer explodierte das Dynamit erst im Wasser. So töteten oder verstümmelten die Dynamitstäbe so manchen Fischer – und zerstörten, wenn sie im Wasser zündeten, alles Meeresleben in weitem Umkreis. Kleine, junge Fische starben ebenso wie die großen, wie Korallen und Muscheln. Und so vernichteten die Menschen immer mehr ihre eigene Lebensgrundlage. Von Jahr zu Jahr fingen sie weniger Fische. Die Armut wuchs, die Fischer gerieten immer mehr unter Druck. So konnte es nicht mehr weitergehen. Doch durch ihre Not wurden sie plötzlich empfänglich für die Vorschläge ihres Bürgermeisters, der ihnen immer wieder erklärte, dass sie das Meer, von dem sie lebten, auch schützen müssten. Der Bürgermeister setzte ein Meeresschutzgebiet durch, eines der ersten der Philippinen. Zunächst nur 200 Hektar groß umfasst es heute 32.000 Hektar. Und die Fischer profitieren bis heute von dem Schutzgebiet. Denn darin können sich die Fischbestände erholen. Und so gibt es heute wieder sehr viel mehr Fische im Meer vor der Fischerinsel Molocaboc. Zudem hatten die Menschen mit Unterstützung ihres Bürgermeisters zusätzliche Einkommensquellen aufgetan, wie das "Magic Hole" oder die Zucht von Muscheln und Fischen.
Schutzwall aus Pflanzen
Der Bürgermeister ist auf Molocaboc so bekannt wie ein Popstar. Jeder begrüßt ihn oder winkt ihm zu. Denn die Menschen haben ihm viel zu verdanken. Und so richten sie ihm und uns zu Ehren auch ein kleines Fest aus, ein Mittagessen, bei dem selbst ein langer Tisch kaum Platz bietet für die Fülle von Köstlichkeiten aus dem Meer: Krebse, viele verschieden Muscheln, Seeigel, Fische. Die Menschen wollen zeigen, dass es ihnen wieder gut geht und das Meer ihnen wieder viel bietet, weil sie es auch schützen.
Und was ist, wenn der Meeresspiegel durch die Klimaerwärmung weiter steigt und die Stürme zunehmen? Da deutet der Bürgermeister zufrieden auf einen Wall von Mangroven, der die Insel umgibt. Die Bewohner von Molocaboc haben diesen Wall in den letzten Jahrzehnten gepflanzt, um sich zu schützen. Und bis heute setzen Erwachsene wie Kinder immer neue Mangrovenstecklinge in den Sand vor ihrer Insel. Die Mangroven sind ihre Lebensversicherung. Denn selbst wenn der Meeresspiegel steigt, dann fangen sie die hohen Sturmwellen ab, die die Insel zerstören könnten.
Und mit starkem Wind bis zum Taifun haben die Philippinos so ihre Erfahrungen, die sie gerne weitergeben: Zwei Tage nach unserem Besuch auf Molocaboc wollten wir auf eine andere Insel übersetzen. Doch das Meer hatte sich verändert: Auf den Wellen bildeten sich Schaumkronen, die der Wind übers Wasser blies. Und bald regnete es auch noch in Strömen. Unser Bootsmann riet von der Fahrt ab, da nicht einmal die Fischer bei diesem Wetter aufs Meer gingen. Doch als ich mit Terence, unserem einheimischen Begleiter, beratschlagte, was wir denn bei dem "stürmischen" Wetter machen könnten, korrigierte er mich: "Das ist kein Sturm, Robert, das ist nur ein Tiefdruckgebiet. Stürme gibt es bei uns fast nur zwischen Juli und Dezember. 20 (!) waren es allein im letzten Jahr." Mir als Nicht-Philippino kam das Tiefdruckgebiet wie ein Sturm vor. Deshalb kann ich gut darauf verzichten, einen "richtigen Sturm" auf den Philippinen zu erleben. Und schon gar nicht auf einer kleinen, flachen Fischerinsel – selbst wenn sie von einem Mangrovenwall geschützt ist. Aber die Fischer und ihre Familien haben gelernt, von und mit der Natur zu leben, sie zu schützen – und auch, sich vor ihr zu schützen.