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Politik

"Ansiedlungsprogramm absolut unrealistisch"

11. Januar 2021

Der grüne Bundestagsabgeordnete und Präsident der deutschen Südosteuropa-Gesellschaft, Manuel Sarrazin, spricht im DW-Interview über Flüchtlingsverteilung in Europa und die Zukunft der EU-Erweiterung.

Bosnien und Herzegowina | Flüchtlingslager Lipa bei Bihac
Flüchtlinge an der Grenze Bosnien und Herzegowinas zum EU-Mitgliedsstaat Kroatien am 29.12.2020Bild: Dragan Maksimović/DW

DW: Herr Sarrazin, was sind für Sie 2021 prioritäre Themen der Europäischen Union in Bezug auf Mittel- und Südosteuropa?

Manuel Sarrazin: Nun, ich denke, dass nach dem turbulenten Jahr 2020 - mit Corona natürlich, aber nicht nur - zwei Sachen extrem wichtig sind: Für Zentraleuropa gilt, Europa zusammenzuhalten! Und für Südosteuropa, für den westlichen Balkan gilt, die Erweiterungsperspektive wieder zu stärken, glaubwürdiger zu machen.

Was stellen Sie sich vor, damit man da neuen Schwung hinein bekommt?

Zunächst müssen wir diese wirklich tiefen Rückschläge, die das zweimalige Nicht-Ermöglichen der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien für die Glaubwürdigkeit des Projekts bedeuten, akut ändern, indem wir die Verhandlungen dort eröffnen und den entsprechenden Ländern den Weg in die EU realistisch vorgeben.

Und dann müssen wir versuchen, das Erweiterungsverfahren insofern umzugestalten, dass wir die Zivilgesellschaft, die Bürgergesellschaften der Länder, stärker direkt einbeziehen und weniger immer nur mit den Administrationen und Regierungen zusammenarbeiten.

Manuel Sarrazin, MdB (Bündnis 90/Die Grünen), ist Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft (SOG), der wichtigsten Politikberatungsinstitution für Balkanthemen in DeutschlandBild: DW/A. Feilcke

Die Unterstützung für eine Erweiterung bröckelt innerhalb der EU und scheint kaum durchsetzbar, schon gar nicht für Länder wie Kosovo oder Bosnien und Herzegowina. Brauchen wir nicht eine andere Perspektive für die Region?

Nein! Ich kenne niemanden, der irgendeinen guten zweiten Vorschlag gemacht hat. Und wenn wir uns ansehen, wie die Türkei momentan dasteht, so ist sicherlich das Gerede von einer Mitgliedschaft zweiter Klasse, einer privilegierten Partnerschaft oder eines äußeren Randes des Kerns vielleicht nicht der einzige, aber sicherlich einer der Gründe gewesen, die es ermöglicht haben, dieses Abdriften vom EU-Pfad dieses Landes zu bestärken.

Wir brauchen die klare Aussage: Ihr sollt dazugehören! Ohne sie hätte auch die Erweiterung 2004, 2007 nicht geklappt. Niemand will in einem Club nur Mitglied zweiter Klasse sein.

Sie haben die Zivilgesellschaft angesprochen. Nun verhandelt man ja aber bekannterweise immer mit den politischen Eliten. Und die kennen die Schwierigkeiten der EU und spielen Europa gegen China und Russland aus. Wie kriegt man diese Leute eingefangen?

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen spricht zu den Regierungschefs der EU und der Westbalkan-Staaten beim Online-Gipfel im Mai 2020. Vorne im Bild: Kroatiens Premier Andrej PlenkovićBild: Getty Images/AFP/D. Sencar

Richtig ist, dass viele der Akteure in den Erweiterungsstaaten, aber auch in EU-Mitgliedsstaaten das Spiel perfektioniert haben, in Brüssel ganz anders zu sprechen als zu Hause. Und wir müssen diesen Eliten signalisieren, dass wir das wahrnehmen und ihnen nicht umsonst Zugeständnisse machen.

Das heißt auch, dass man bei bestimmten Ländern vielleicht mal ein Beitrittskapitel nicht eröffnet, weil man sagt, die Reformen - beispielsweise im Justizbereich in Serbien oder Montenegro - sind nicht so wie versprochen in ihrer Wirkung. Und dass man dann aber gerade bei den Ländern, die sich wirklich anstrengen, Reformen zu machen, auch den Versprechen Taten folgen lässt. Und da haben wir in den letzten zwei Jahren, nicht nur 2020, auch 2019, wirklich einen richtig falschen Pfad eingenommen, indem wir Nordmazedonien und Albanien weiterhin auf der Türschwelle verhungern lassen.

Braucht es also mehr Druck auf Bulgarien und die anderen Länder innerhalb der EU, die eine Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen blockieren?

Nordmazedoniens Premier Zoran Zaev und sein bulgarisches Pendant Boyko Borissov im Online-Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel beim "Sofia-Treffen" am 10.11.2020Bild: Regierung R. Nordmazedonien

Genau. Es kann nicht sein, dass bilaterale Fragen die EU-Erweiterung blockieren.

In der Corona-Krise kritisieren Politiker vom Westbalkan, dass sie von der EU nicht ausreichend unterstützt werden. Ist das berechtigt?

Nun, ich denke, dass die EU dort vor allem mit dem Wirtschaftspaket, das sie angekündigt hat, schon ein Ausrufezeichen gesetzt hat. Und dass die Problematik eher in der akuten Krisenhilfe war, als Länder wie China und zum Teil auch Russland sowie Politiker aus der Region - wie Serbiens Präsident Aleksandar Vučić - einfach das Spiel perfektioniert haben, die unkoordinierte Situation der EU sozusagen für eigene Zwecke auszunutzen.

Aber insgesamt sehen viele Menschen jetzt, dass die EU eher der Akteur ist, der auf Dauer am Ball bleiben wird, auch wenn es um die Bekämpfung sowohl der Pandemie als auch der ökonomischen Folgen der Pandemie geht. Und eigentlich ist ja jedem Menschen, der in der Region lebt, klar, dass es keine zweite Alternative gibt, an der man sich ausrichten kann, als den größten Binnenmarkt der Welt, der direkt an den Grenzen des eigenen Staates, mitten in der eigenen Region, schon angekommen ist.

Corona-Hilfe aus Europa für den Westbalkan: Ein Flugzeug mit von der EU finanzierter medizinischer Ausrüstung wird im April 2020 auf dem Flughafen der serbischen Hauptstadt Belgrad entladenBild: EU Delegation, Serbien

Ein wichtiges EU-Thema in Bezug auf Südosteuropa ist die Flüchtlingsproblematik. Der CDU-Politiker Friedrich Merz hat in der Frage gerade Position bezogen und gesagt, die Menschen sollten vor Ort, sprich in Bosnien sowie in Griechenland, versorgt werden und nicht weiter nach Mitteleuropa vorgelassen werden. Was setzen Sie dem entgegen?

Die deutsche Position ist ja schon seit langem, dass wir eine faire Verteilung wollen und dass wir Griechenland, aber auch Bosnien nicht mit der Situation alleine lassen können. Wenn man sich einfach mal die Situation der Geflüchteten in Bosnien ansieht, dann ist relativ klar, dass die Versorgung vor Ort nicht funktioniert. Und ich halte es auch für unrealistisch zu glauben, dass man dort eine so ideale Versorgung organisieren kann, dass das humanitär vertretbar wäre. Schließlich wollen die Menschen nicht nach Bosnien, sondern in die EU.

Insofern ist ein "Ansiedlungsprogramm" - in Anführungszeichen! - über irgendwelche angeblichen Luxus-Camps dort absolut unrealistisch. Wir müssen die akute humanitäre Notlage der Menschen lindern. Aber wir müssen auch vorankommen, wenn es darum geht, die Flüchtlinge zu verteilen, sei es freiwillig oder über Kontingente. Auf jeden Fall kann man die Situation dort nicht einfach so lassen, wie sie ist.

"Auf jeden Fall kann man die Situation dort nicht einfach so lassen, wie sie ist." Migranten im neuen Camp Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos am 19.12.2020Bild: Anthi Pazianou/Getty Images/AFP

Wir sind nun im Jahr der Bundestagswahl. Was sollte sich in Bezug auf Mittel- und Südosteuropa für den Fall ändern, dass die Grünen an einer neuen Regierung beteiligt wären?

Ganz unabhängig vom Ausgang der Wahl bzw. von der neuen Regierung ist es so, dass die Akzente auf dem westlichen Balkan fortgesetzt werden müssen. Deutschland ist dort in den letzten Jahren ein Akteur, der erweiterungsfreundlich ist - und in der Region präsent.

Das Entscheidende wird sein, dass die politische Priorisierung hoch bleibt oder noch höher wird, als sie bis jetzt war. Wir werden ja auch neue Personen haben, sicherlich im Kanzleramt, vielleicht auch im Auswärtigen Amt. Uns wird wichtig sein, dass diese Personen sich Südosteuropa auf die Fahnen schreiben und priorisieren.

Für Zentraleuropa, glaube ich, ist die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre: Europa zusammenhalten, zu den eigenen Überzeugungen stehen, aber einen Diskurs mit unseren Partnern führen, mit dem Ziel, das gefährliche Auseinanderdriften zwischen Ost und West innerhalb der EU zumindest kommunikativ zu beheben. Und im Zweifelsfall auch zu sagen: Es gibt Punkte, wo wir nicht einer Meinung sind.

Schließlich wollen wir trotz allem zusammen Europa voranbringen, weil wir auf dieses Projekt angewiesen sind. Gemeinsam. Das ist der Appell nach Budapest und Warschau, aber sicherlich ein bisschen auch nach Berlin und Brüssel.

Gestrandet in Bosnien

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