Amanal Petros - mit den Gedanken in Äthiopien
27. Dezember 2021Amanal Petros hat Urlaub oder, besser gesagt, eine kleine Laufpause. Das bedeutet, er läuft gerade nicht wie sonst 200, sondern lediglich 80 Kilometer pro Woche, um fit zu bleiben. Es ist Weihnachtszeit, und sein letzter Wettkampf liegt schon einige Wochen zurück. Beim "Maratón de Valencia" verbesserte der 26-Jährige seinen eigenen deutschen Marathon-Rekord um fast eine Minute. Petros überquerte nach 2:06:26 Stunden als Elfter das Ziel in Spanien.
"Es war sehr schön. Ich habe eine riesengroße Erfahrung gesammelt", sagt Petros zufrieden. "Aber das Wichtigste war, dass ich meine Zeit verbessern konnte und noch einen deutschen Rekord aufgestellt habe." Damit nicht genug, denn auch eine 28 Jahre alte nationale Bestmarke von Carsten Eich konnte das Lauf-Ass in diesem Jahr knacken: Er schaffte den Halbmarathon in einer Zeit von 1:00:09 Stunden.
Nun ist aber etwas Ruhe eingekehrt. "Aman", wie ihn seine Teamkollegen nennen, sitzt auf seinem Sofa im Wohnzimmer und betrachtet stolz seinen kleinen Weihnachtsbaum. Silberne und goldene Christbaumkugeln, ein bisschen Lametta und eine kleine Lichterkette hat der 26-Jährige an die grünen Äste gehängt. "Es ist gemütlich, und ich liebe den Weihnachtsbaum und die Weihnachtszeit hier in Deutschland", erklärt Petros. "Und da ich diesen Monat hier bin, möchte ich die Chance nutzen und ein Weihnachtsgefühl erzeugen."
Kein Kontakt zur Familie
Der Marathonläufer ist zufrieden und ein bisschen stolz, denn in seiner Heimat Äthiopien "haben immer die Frauen das Schmücken zur Weihnachtszeit übernommen. Hier in Deutschland", so Petros, "machen das auch die Männer, und das ist toll." Gemeinsam mit seiner Freundin hat er die Feiertage verbracht. Doch der Rest seiner Familie konnte das Fest in diesem Jahr nicht in Frieden feiern - und das beschäftigt ihn tagtäglich. Seine Mutter und seine zwei Schwestern leben in der Region Tigray im Norden Äthiopiens - und dort wütet momentan ein Krieg.
Der Tigray-Konflikt hat eine schwere humanitäre Krise im Land ausgelöst. Tausende Menschen sind nach UN-Angaben getötet worden, fast zwei Millionen wurden vertrieben, und über fünf Millionen Menschen brauchen humanitäre Hilfe. Die Region ist weitgehend vom Rest der Welt abgeschnitten. Die Versorgungslage gilt als katastrophal. Nach UN-Angaben leiden allein in Tigray 400.000 Menschen an Hunger. Und laut UNICEF könnten über 100.000 Kinder in den nächsten Monaten von schwerer Unterernährung betroffen sein. Zudem gibt es Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen wie Vergewaltigungen, Plünderungen und Hinrichtungen.
Petros: "Schlimmer geht es gar nicht"
"Seit 396 Tagen", sagt Petros, ohne lange zu überlegen, "wütet der Krieg in Äthiopien. Ich zähle jeden einzelnen Tag." Seit über zwei Monaten hat der 26-Jährige keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, denn die Kommunikationswege sind abgeschnitten. "Meine Schwestern und meine Mutter sind dort wie in einem Gefängnis. Die Menschen tun mir leid. Die Kinder, die jeden Tag ohne Grund sterben. Unschuldige Menschen sterben jeden Tag. Schlimmer geht es gar nicht", so Petros.
Gut 7.500 Kilometer entfernt in seiner Bochumer Wohnung hofft der 26-Jährige nun jeden Tag auf ein Lebenszeichen seiner Angehörigen. "Es ist sehr schwer", sagt Petros. "Manchmal schlafe und träume ich sehr schlecht. Aber ich versuche die Hoffnung nicht aufzugeben." Laufen hilft ihm dabei, es macht ihn stark und gibt ihm die nötige Zuversicht. "Wenn ich meinen Sport aufgeben würde, hätte ich alles verloren", sagt Petros und ergänzt: "Ich habe meine Familie schon verloren, und dann hätte ich auch noch das letzte verloren, was ich gerade habe."
Die Aufmerksamkeit, die er wegen seiner sportlichen Erfolge bekommt, nutzt Petros, um auf die Situation in seiner Heimat aufmerksam zu machen. Über seine Social-Media-Kanäle oder auch in Interviews weißt er immer wieder auf die dramatischen Zustände in Äthiopien hin.
Keine Wangenküsschen mehr
Als "Aman" mit 16 Jahren als Flüchtling nach Deutschland kam, wusste er noch nicht, dass er einmal ein so erfolgreicher Marathonläufer werden würde. In Äthiopien hatte er schon als Fünfjähriger auf dem Feld gearbeitet und sich um die Tiere gekümmert. Nach seiner Ankunft in Bielefeld vor fast zehn Jahren hatte Petros zunächst mit ganz anderen Dingen zu kämpfen. "Die Sprache zu lernen, war zum Beispiel eine große Herausforderung. Aber eine noch viel größere war es, die Mentalität der Deutschen zu verstehen", erinnert sich Petros.
"Als ich einmal zu einer Laufgruppe kam, kannte ich die Leute nicht. Ich habe sie zum ersten Mal gesehen. In Äthiopien küssen wir auch unbekannte Menschen zur Begrüßung auf die Wange - und das habe ich auch bei der Gruppe gemacht." Von so viel Nähe überrascht, reagierten die Gruppenmitglieder mit großer Verwunderung und fragten sich: "Was für ein komischer Typ ist das denn?" Mittlerweile kann Petros über die damalige Situation lachen. Er hat die deutsche Mentalität verstanden, verzichtet nun auf das Wangenküsschen. Das Laufen allerdings hat er nicht aufgegeben.
Sportlicher Erfolg wird zur Nebensache
Beim "Oesterweger Volks- und Feuerwehrlauf" am 29. Juni 2012 überquerte der damals 17-Jährige gleich bei seinem ersten offiziellen Rennen als Erster die Ziellinie - mit zweieinhalb Minuten Vorsprung vor dem Zweitplatzierten. Das war der Startschuss für eine beeindruckende Karriere, die seitdem steil bergauf geht. Petros ist ehrgeizig und hat im kommenden Jahr den Marathon-Europarekord (2:03:36 Stunden) ins Visier genommen. Doch neben den sportlichen Zielen hat der 26-Jährige vor allem einen Wunsch: "Ich möchte meine Familie wiedersehen, deren Stimmen hören. Und dass es wieder Frieden, Demokratie und Meinungsfreiheit in meiner Heimat gibt."