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Film

"Unorthodox": Emmy für Maria Schrader

Silke Bartlick
21. September 2020

Eine ultraorthodoxe Jüdin verlässt ihre Glaubensgemeinschaft: Für die eindrückliche Verfilmung bekam die deutsche Regisseurin Maria Schrader einen Emmy Award.

Filmstil aus der Netflix-Serie "Unorthodox" zeigt junge Frau, die mit dem Gesicht nach oben in einem See treibt (Foto: Netflix/Anika Molnar).
Die Jüdin Etsy entdeckt eine neue Welt Bild: Netflix/Anika Molnar

Wie rausgefallen aus der Zeit steht Esty da - unter der alten Weide im Strandbad Wannsee. Um sie herum Menschen in knapper Badekleidung, lachend, unbeschwert. Esty aber ist ernst und in sich gekehrt, ihre Bluse akkurat zugeknöpft. Unter dem züchtigen Wollrock trägt sie eine Strumpfhose, trotz der sommerlichen Hitze. Sie hat kein Handtuch dabei und auch keinen Badeanzug, sie besitzt so etwas auch gar nicht. Denn Esther, die Esty genannt wird, ist in einer abgeschirmten, ultraorthodoxen chassidischen Gemeinde im New Yorker Stadtteil Williamsburg aufgewachsen.

Mit gerade einmal 17 Jahren wurde sie in eine arrangierte Ehe gedrängt, mit einem schüchternen jungen Mann, mit dem sie schnell Kinder bekommen sollte. Aber der Geschlechtsverkehr will nicht gelingen, Esty hat Schmerzen, die ersehnte Schwangerschaft bleibt aus. Der familiäre Druck nimmt zu. Bis Esty es schließlich nicht mehr aushält und nach Berlin flieht - in ein neues Leben, in eine ungewisse Zukunft. Und nun steht sie hier, zwischen ausgelassen Badenden am Ufer des Wannsees.

Einblick in unbekannte Welt

2012 erschien in den USA Deborah Feldmans autobiografischer Debütroman "Unorthodox" und führte bereits am Tag seines Erscheinens die Bestsellerlisten an. Denn der Autorin ist damit ein Kunststück gelungen: Sie gewährt vielschichtige Einblicke in eine bis dahin weitgehend unbekannte Welt, in den von Regeln, Ritualen und nicht hinterfragten Gesetzen durchdrungenen Alltag der ultraorthodoxen Glaubensgemeinschaft der Satmarer. Und sie erzählt authentisch die Geschichte einer Selbstbefreiung.

"Die Satmar-Juden", so Deborah Feldman, "sind eine chassidische Gemeinde, die ursprünglich aus der ungarischen Stadt Satmar stammt. Sie besteht vor allem aus Nachfahren von Holocaust-Überlebenden und wurde von diesen nach dem Krieg in New York gegründet." Man wolle, heißt es in 'Unorthodox', die eigenen Reihen wieder erstarken lassen und mit möglichst vielen Kindern all jene, die im Holocaust umgekommen sind, ersetzen.

Jung verheiratet, Haare abrasiert: Nach der Hochzeit müssen ultraorthodoxe Jüdinnen Perücke tragenBild: Netflix/Anika Molnar

Feldman beschreibt ihre Herkunftswelt durchaus in zarten Tönen. Und doch macht sie keinen Hehl daraus, wie sehr sie unter dem von strengen Glaubensregeln bestimmten Alltag gelitten hat. Sie konnte nicht sie selbst sein, erhielt nie die Möglichkeit zu erkunden, wer dieses Selbst überhaupt ist. Sie war, zumal als Frau, vieler Rechte beraubt.

Das Haar hatte man ihr abrasiert, sie trug wie alle verheirateten Frauen eine Perücke, bekam früh ihr erstes Kind. Aber heimlich begann sie zu studieren und zu schreiben. Schließlich blieb nur der Bruch. Die junge Frau verließ ihren Mann, die Familie und die Religionsgemeinschaft. Sie zog nach Berlin. Die Freiheit und Selbstbestimmung, nach der sie sich so gesehnt hat, hat die Autorin tatsächlich gefunden, auch dank des Welterfolgs von 'Unorthodox'. Es klingt wie ein Wunder.

Gelungene Verfilmung

Die deutsche Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader hat "Unorthodox" für den US-amerikanischen Streamingdienst Netflix verfilmt, als vierteilige Serie, die es sich erlaubt, teilweise von der Vorlage abzuweichen. Der New Yorker Teil ist eng an Feldmans Buch anlehnt, den Berlin-Part aber haben die Drehbuchautorinnen Anna Winger und Alexa Karolinska recht frei erfunden. Ihre Protagonistin heißt Esty, und sie erzählen deren Geschichte keineswegs linear, sondern verschränken die Rückblicke auf Estys Leben in Williamsburg geschickt mit der Selbstfindung in Berlin.

Regisseurin Maria Schrader bei den Dreharbeiten von "Unorthodox"Bild: Netflix/Anika Molna

Hier also die streng-religiöse, patriarchalische chassidische Gemeinschaft, in der zumeist Jiddisch gesprochen wird, dort das enthemmte multikulturelle und kreative Berlin unserer Tage. Zwei höchst unterschiedliche Welten, die, und das ist eine der Leistungen der Verfilmung, gleichwertig und gleichberechtigt präsentiert werden. In einem Making-of, das Netflix im Anschluss an die vierte Folge zeigt, wird deutlich, mit wie viel Fingerspitzengefühl sich das Filmteam der chassidischen Gemeinde in Williamsburg angenähert hat. Zwei Recherchereisen und lange Gespräche mit Glaubensvertretern gab es. Ein Spezialist fürs Jiddische im Kernteam half bei allen Details und spielte zudem den Rabbi. Und viele Menschen, die vor und hinter der Kamera mitwirkten, stammen aus der Gemeinde.

Es gibt, sagt Maria Schrader, "natürlich innerhalb dieser Community, die hunderttausende von Menschen allein in New York umfasst, die unterschiedlichsten Lebenswege, die unterschiedlichen Aggregatszustände von menschlicher Zufriedenheit und menschlicher Unzufriedenheit." Und sie werde einen Teufel tun zu sagen, diese Form von Leben müsse man verurteilen. "Ich habe dort auch sehr glückliche Menschen kennengelernt. Und für uns ist es immer wichtig gewesen zu verstehen: Warum ausgerechnet Esty? Warum hat sie diese Probleme, die andere nicht haben?"

Befreiung in Berlin

Esty, der man schon als Kind nachgesagt hat, dass sie anders sei. Esty, die Fragen stellt, die wissen will. Und die eine für eine chassidische Frau unpassende Begabung hat: Sie ist überaus musikalisch und hat heimlich Klavierstunden genommen (keine Autorin, wie Deborah Feldman). Der Zufall führt sie in Berlin mit einer internationalen Truppe junger Menschen zusammen, die allesamt talentierte Musiker sind und unterschiedlicher nicht sein könnten: Jude, Christen und Muslime, schwul oder heterosexuell. Sie spielen zusammen, und sie spielen klassische deutsche Musik. Das geht, wie in Berlin ja so vieles möglich ist. Diese jungen Musiker sind es, die Esty mit an den Wannsee nehmen, die ihr klar machen, dass der See nur ein See ist, obwohl im Januar 1942 in einer Villa am gegenüberliegenden Ufer die "Endlösung der Judenfrage" verhandelt wurde. So ruckeln sie an Estys Weltbild. Und die, großartig gespielt von der israelischen Schauspielerin Shira Haas, zieht vorsichtig die Strumpfhose aus - mehr lässt die Scham nicht zu - und geht ins Wasser. Zum ersten Mal in ihrem Leben badet sie in der Öffentlichkeit. Und dann fasst sie sich ein Herz, nimmt die Perücke ab, lässt sie davon treiben und wirft das kurz geschorene Haupt lächelnd in den Nacken. Die Befreiung hat begonnen.

Ein Emmy für die Regie

Esty tastet sich in ein unbekanntes Leben, probiert die neue Freiheit aus, zweifelt, strauchelt. Und immer wieder holt sie die Vergangenheit ein. Aber sie gibt nicht auf, kämpft und triumphiert schließlich. Am Ende der vierten Folge, am Ende der Serie, die unterhält, aufwühlt, nachdenklich stimmt. 

Das befand auch die Jury der Emmy Awards, die Maria Schrader mit dem Emmy für die die beste Regie auszeichnete. Die per Video zugeschaltete Regisseurin konnte ihr Glück kaum fassen und zeigte sich "sprachlos" über die begehrte Trophäe. Sie komme "so unerwartet". "Unorthodox" hat sich mittlerweile zum Publikumsrenner entwickelt, auch in arabischen Staaten wird die Netflix-Serie häufig eingeschaltet.

Dies ist die aktualisierte Fassung eines früheren Artikels.

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