Marieluise Beck: "Wir waren absolut beflügelt"
5. März 2013DW: Als die Grünen damals in den Bundestag einzogen, war das doch sicher ein Kulturschock?
Marieluise Beck: Das war atemberaubend. Man konnte es selbst kaum glauben. Es war in der Tat für das politische Establishment in Bonn ein absoluter Schock.
Aber für Sie doch sicher auch, sich konfrontiert zu sehen mit den steifen Anzugträgern in dem politischen Milieu des damaligen Bonn?
Na ja, dieses Umfeld kannte man ja aus den eigenen Elternhäusern. Insofern war ich nicht wirklich geschockt durch das, was ich erlebte. Und Sie müssen sich vorstellen, wir waren sehr selbstbewusst. Wir hatten ja wirklich das Gefühl, dass wir mit einem übergroßen Sieg eben diesem Establishment zeigen konnten: Hoppla, Deutschland hat sich geändert, und wir sind die Repräsentanten.
Die Themen der Zeit erkannt
Sie hat sicher bestärkt, dass die Grünen die richtigen Themen hatten: Frieden, Umwelt, Frauen. Sie trugen diese Themen aus der Bevölkerung hinein in die Politik.
Wir waren absolut beflügelt. Die Themen, die wir ins Parlament hineingetragen haben, waren ja in der Gesellschaft, in Initiativen, in den Gemeinden und politischen Zirkeln längst angekommen: Frauen, Homosexuelle, Missbrauch an Kindern, das Waldsterben, das Thema Atomenergie. Wir brachten unglaublich viel mit.
Kürzlich konnte man in einer TV-Dokumentation über 30 Jahre Grüne im Bundestag sehen, wie Sie in den Bundestag einzogen. Sie trugen einen altrosafarbenen Angora-Pullover...
(unterbricht lachend) lavendelfarben...
Aber Angorawolle ist richtig...
Nein, es war feines Mohair, selbst gestrickt... (wieder lachend)
Sie also im lavendelfarbenen selbst gestrickten Pulli aus Mohair und neben Ihnen saß der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl in Anzug und Schlips, der just dann zum Bundeskanzler gewählt wurde. Sie haben ihm mit einem traurigen Tannenzweig zur Wahl gratuliert. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Ich war Überbringerin im Auftrag einer Bürgerinitiative, die gegen das Waldsterben kämpfte und die mich gebeten hatte, dem zu wählenden Bundeskanzler nach seiner erwartungsgemäßen Wahl dieses Zeichen zu übergeben. Das habe ich dann auch ausgeführt.
Wie hat Helmut Kohl reagiert?
Ausgesprochen freundlich und gelassen, es gab kein böses Wort, keinerlei Aggressivität vonseiten Helmut Kohls. Das war auch, glaube ich, nicht seine Art. Die Prügel habe ich von anderer Seite bezogen, das ist ja inzwischen auch öffentlich dokumentiert.
Nämlich von ihrem damaligen Fraktionskollegen Otto Schily.
Genau. Er hat ja in dem Film, den Sie ansprachen, noch mal betont, er habe diese Geste nicht für angemessen und zeitgemäß gehalten. Ich erspare mir einen weiteren Kommentar.
Nun, man kann in historischen Aufnahmen sehen, wie fassungslos Sie seinerzeit waren...
Ich würde zu einem Zeitsprung ansetzen, in die Gegenwart. Ausgerechnet im Autoland Baden-Württemberg stellt die Partei mit Winfried Kretschmann erstmals einen grünen Ministerpräsidenten...
Der übrigens mein politischer Ziehvater ist...
Des Weiteren stellen die Grünen in der baden-württembergischen Landeshauptstadt mit Fritz Kuhn erstmals einen grünen Oberbürgermeister. Die Grünen gelten in den Augen beider Volksparteien, CDU/CSU und SPD, als potentieller Koalitionspartner. Und die Piraten, die ihnen angeblich das Wasser hätten abgraben können, haben sich selbst marginalisiert...
Die Piraten hätten sich den Film über die Grünen anschauen sollen, besonders den zweiten Teil. Dann wüssten sie, wie man es nicht machen darf... (lachend)
Wenn wir heute zurückschauen: Haben die Grünen alles richtig gemacht?
Nein, wir haben natürlich nicht alles richtig gemacht. Der Weg von der Vielfalt, aber auch dem Chaos, das ja produktive wie destruktive Seiten hat, hin zu einer Vereinheitlichung war unumgänglich, um die Existenz der Grünen zu sichern. Allerdings haben wir bei all diesen Häutungen sehr viele Menschen verloren, die ein Verlust für die Partei waren. In den Zeiten, als Jutta Ditfurth sehr stark war, zwischen 1990 und 1994, ist die Partei haarscharf am Untergang vorbeigesegelt. Dieser Fundamentalismus, den die Leute um Jutta Ditfurth pflegten, strukturkonservative links gebliebene Aktionisten – wenn sie obsiegt hätten, wären die Grünen von innen zerstört worden. So ein Stil hat ganz viele Menschen abgeschreckt.
Als die Grünen Lehrgeld bezahlten
Man kann also sehen, dass nach den euphorischen Anfangsjahren schwierige Jahre kamen. 1990, als sie den Wiedereinzug in den Deutschen Bundestag verfehlt haben, als die Grünen das Thema Deutsche Einheit verpasst haben. Hinzu kam die Auseinadersetzung zwischen den konträren Parteiflügeln der „Fundis“ und der „Realos“. Welcher Rückschlag hat der Partei am ärgsten zugesetzt?
Natürlich war der stärkste Rückschlag der Rauswurf aus dem Deutschen Bundestag. Es liefen Wetten, dass wir das politisch nicht überleben würden. Das Überleben war einem großen Kraftakt zu verdanken und einem heilsamen Schock, den die Partei auch erkannt hat. Insofern ist die Zeit von 1990 bis 1994 die zweite Chance für uns West-Grünen gewesen, und die haben wir genutzt.
Die nächste große Herausforderung war die rot-grüne Koalition, als sie Regierungsfähigkeit und den Blick fürs politisch Machbare unter Beweis stellen mussten. Damals gab es die Abstimmung im Bundestag über die Beteiligung an den Militäreinsätzen im Kosovo, den Atomausstieg und einen grünen Minister, der die Rücktransporte von Castorbehältern mit radioaktivem Abfall verantworten musste.
Beide, Joschka Fischer, der als Realo galt, und Jürgen Trittin, der als Linker galt, haben gleichermaßen der Partei abverlangen müssen, zu lernen, dass Regierung und Parlamentarismus auch Kompromiss bedeuten, dass man sich nicht außerhalb stellen kann. Am schwierigsten war das, glaube ich, für Jürgen Trittin. Er musste der Partei vermitteln: Auch wenn es angesichts der Risikobehaftetheit am besten wäre, wir würden morgen alle Atomkraftwerke abschalten, geht dies in einem Rechtsstaat nicht. Folglich ist es besser, sich auf den Weg zu machen, um innerhalb von 20 Jahren alle Atomkraftwerke abzuschalten, als in die Verweigerung, nämlich in die Fundamentalopposition zu gehen.
Die Entscheidung mit dem Kosovo war insofern schwierig, weil da die Ethik des Eingreifens und die Ethik des Nicht-Eingreifens gegeneinanderstanden. Doch die Menschen waren schon auf der Flucht und es gab bereits zivile Opfer. Nach Srebrenica mussten wir mit dem Schlimmsten rechnen.
Die Partei in der Ära nach Joschka Fischer
Ein weiterer Prüfstein für die Partei war der Abtritt Joschka Fischers von der politischen Bühne.
Ja, sicherlich gab es die Sorge: Was sind die Grünen ohne Joschka, sind sie überhaupt noch etwas? Die Entwicklung zeigt aber, dass die Grünen durch ihre Themen getragen werden. Personen sind zwar nach wie vor wichtig, aber das Überleben der Partei hängt nicht von einzelnen Personen ab.
Es gibt aber auch Themen, die auch andere Parteien für sich entdeckt haben, wie das Thema Atomausstieg. Damit hat sich das Thema sozusagen erledigt. Wofür stehen die Grünen heute?
Die Grünen wandeln sich. Sie stehen für eine moderne Gesellschaft, die Wachstum und Ressourcenzerstörung entkoppelt, die in Kreisläufen denkt. Die Grünen sind eine Partei, die einen Wohlstandsbegriff definiert, der mit gutem Leben verbunden ist, die ethische Verpflichtungen anerkennt, dass beispielsweise die Tierhaltung nicht zur Qual werden darf, dass wir Tiere nicht zu Dingen machen dürfen. Vor dem Thema ökologische Notwendigkeit kann niemand davonlaufen, auch nicht eine wachsende Weltbevölkerung, die Wohlstand will und auch das Recht auf Wohlstand hat, die dabei aber verkennen muss, dass Wachstum nicht dauerhaft auf Kosten der Natur funktioniert.
In der Rückschau auf Ihre politische Karriere: Welche Person aus den vergangenen 30 Jahren bewundern Sie am meisten?
Ich muss Ihnen gestehen, ich bin nicht die Bewunderin, die aufblickt. Ich habe großen Respekt vor meinem politischen Ziehvater Winfried Kretschmann, dem es die Partei nicht immer leicht gemacht hat, der nicht bereit war, sich stromlinienförmig in der Partei zu bewegen. Ihm wächst für diese Standfestigkeit nach vielen, vielen Jahren solch eine Anerkennung zu und er zeigt, wie ein Politiker zu einer Person wird, die Vertrauen genießt.
Und wo sind die Grünen in fünf Jahren?
Im nächsten Wahlkampf. Und ich hoffe, aus der Regierung heraus auf dem Weg in die nächste.