Marina Abramović in Belgrad: Rückschau in der alten Heimat
Julia Hitz
19. September 2019
Vor vier Jahrzehnten brach Marina Abramović aus Belgrad auf - und wurde zur berühmtesten Performance-Künstlerin der Welt. Nun kehrt sie mit der Retrospektive "The Cleaner" in ihre Geburtsstadt zurück. Ein Happy End?
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Marina Abramović: Eine lebenslange Performance
Sie ist als Performancekünstlerin weltbekannt. Die Serbin hat seit den 1970er-Jahren mehrere Dekaden der Performance-Kunst geprägt. Und sie in die großen Kunstmuseen gebracht.
Bild: Marco Anelli /Marina Abramovic Archives
Die Künstlerin als Schmerzensfrau
Sie legte sich nackt auf Eisblöcke, ritzte sich die Haut auf und schrie, bis ihre Stimme versagte: Wohl kaum ein Künstler setzt den Körper so radikal als Ausdrucksmittel ein wie Marina Abramović. Ein Blick auf ihr Leben und Werk.
Bild: picture-alliance/dpa
1973: Grenzüberschreitung
Ihr Erweckungserlebnis war eine Performance mit zehn Messern und zwei Tonbandgeräten, eine Art slawisches Trinkspiel. "Ich hatte gespürt, dass mein Körper grenzenlos war, dass Schmerz keine Rolle spielte, dass nichts eine Rolle spielte - und es war berauschend", schreibt Marina Abramović in ihrer Autobiografie. "In dem Augenblick wusste ich, dass ich mein Medium gefunden hatte."
Marina Abramović wuchs in Belgrad als Kind zweier Partisanen auf, privilegiert zwar mit früher Kunsterziehung, doch einsam und von der Mutter regelmäßig geschlagen. Die Unterdrückung im kommunistischen Jugoslawien unter Tito macht sie immer wieder zum Thema ihrer Arbeiten, die oft sehr riskant sind: Bei dieser Performance in Belgrad mussten Besucher sie vor den Flammen retten.
Bild: Nebojsa Cankovic/Marina Abramovic Archives
1975: Radikale Selbstinszenierung
Verletzungen durch Selbst- und Fremdeinwirken, Nacktheit oder Bewusstlosigkeit sind in ihrem frühen Werk eher die Regel als die Ausnahme. Mit ihren radikalen Performances begehrte die 1946 geborene Künstlerin gegen die dekorative Ästhetik auf, die ihre Jugend prägte: "Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass Kunst verstörend sein muss, dass Kunst Fragen stellen und zukunftsweisend sein muss."
Die Begegnung mit dem deutschen Künstler Ulay (Frank Uwe Laysiepen) läutete eine neue Periode in Marinas Werk ein. Nicht nur, dass die beiden sich Hals über Kopf ineinander verliebten, sie arbeiteten fortan im Team. Den Auftakt machte eine Performance bei der Biennale in Venedig: Beide Künstler begegneten sich 58 Minuten lang immer wieder mit ihren nackten Körpern - Fleisch gegen Fleisch.
Bild: Ulay/Marina Abramović/Moderna Museet
1978: Kreative Verschmelzung
Zwölf Jahre lang lebten und arbeiteten die beiden Künstler zusammen. Zeitweise wohnten sie in einem kleinen Autobus, völlig vogelfrei, und reisten zu den Orten, an die sie für ihre gemeinsamen Performances eingeladen wurden. In "AAA-AAA" schreien sie sich 15 Minuten lang an.
Es war nur folgerichtig, dass auch ihre Trennung 1988 mit einer Performance besiegelt wurde. Die Wanderung aufeinander zu, entlang der Chinesische Mauer, war eigentlich als romantisches Manifest gedacht. Beim Zusammentreffen wollten die beiden heiraten. Doch war die Liebe in den Jahren zuvor auf der Strecke geblieben: Sie trennten sich - privat wie künstlerisch.
Die Trennung bedeutete für Marina Abramović Kunst keinen Rückschritt, im Gegenteil: 1997 wurde sie zur Biennale nach Venedig eingeladen, in die internationale Sektion des italienischen Pavillons. Mit ihrer Arbeit zu den Balkan-Kriegen, in der sie sieben Stunden am Tag Rinderknochen putzte, gewann die Serbin den Goldenen Löwen.
Die Knochen erinnerten auch an ihre frühere Video-Performance-Reihe "Cleaning the Mirror". Performances leben in dem Moment, doch sind Videos eine Möglichkeit, die flüchtige Kunst für die Nachwelt zu konservieren. Seit den 1990er Jahren bildet Marina Abramović auch Nachwuchskünstler aus.
Zur Jahrtausendwende zog Marina Abramović nach New York um und arbeitete viel: Theaterstücke, Performances, Begegnungen mit anderen Künstlern. Langsam wurde auch das amerikanische Publikum auf ihre Kunst aufmerksam. In "House with an Ocean View" lebte die Künstlerin zwölf Tage in drei komplett einsehbaren Räumen. Die Idee: das Energiefeld zwischen sich und den Besuchern verändern.
Bild: Attilio Maranzano/Marina Abramovic Archives
2010: Aug in Aug mit der Künstlerin
Das Museum of Modern Art in New York widmete Marina Abramović 2010 eine umfassende Retrospektive, in der die Künstlerin erstmals Re-Performances ihrer bekanntesten Arbeiten zeigte. Sie selbst war drei Monate präsent. Besucher konnten ihr ins Auge schauen - ein Riesenerfolg. Der Medienrummel erweiterte ihr Publikum weit über das Bildungsbürgertum hinaus.
Bild: Marco Anelli /Marina Abramovic Archives
2002: "The House with the Ocean View"
2002 zog Marina Abramović in die Sean Kelly Gallery (New York) in drei schwebende, miteinander verbundene Räume ein. Für die Dauer von 12 Tagen konnte man ihr bei ihrer täglichen Routine zusehen, die sie schweigend und fastend vollzog, vom Schlafen und Duschen bis zur Benutzung der Toilette. Leitern mit Sprossen aus Tranchiermessern mit nach oben weisenden Klingen trennten sie vom Publikum.
Bild: Attilio Maranzano/Marina Abramovic Archives
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In den USA fand 2010 eine große Retrospektive von Marina Abramović statt - die Schau "The Artist is present" im New Yorker Museum of Modern Art schlug ein wie eine Bombe. Seit 2017 tourte die Performancekünstlerin dann durch sieben Städte Europas. Und nun, zum Abschluss und Höhepunkt kehrt die Artistin in ihre Heimatstadt zurück - nach 44 Jahren. Mit welchen Erwartungen?
Künstlerischer Werdegang in Jugoslawien und Europa
Marina Abramović kommt 1946 in Belgrad zur Welt, sie studiert Malerei an der Kunstakademie in Belgrad und in Zagreb. Ihr Interesse für die Performancekunst erwacht früh, 1969 schlägt sie dem Belgrader Kulturzentrum erste Ideen vor, die aber abgelehnt werden. Sie experimentiert mit Klanginstallationen, zeigt sie in Ausstellungen. 1973 wird sie erstmals zu einem internationalen Festival nach Schottland eingeladen und zeigt ihre erste Performance-Arbeit: Rhythm 10.
Die junge Künstlerin beginnt, sich zu vernetzen, trifft den Deutschen Joseph Beuys, der ihrer ersten Performance beiwohnt. "In diesem Augenblick wusste ich, dass ich mein Medium gefunden hatte", notiert Marina Abramović in ihrer Autobiografie "Durch Mauern gehen". Für sie ein Erweckungsmoment: "Ich hatte die totale Freiheit erfahren - ich hatte gespürt, dass mein Körper grenzenlos war; dass Schmerz keine Rolle spielte, dass überhaupt nichts eine Rolle spielte - und es war berauschend."
Harsche Kritik aus Belgrad
Da reift schon ihr Entschluss, die jugoslawische Heimat zu verlassen. Doch nimmt sie zunächst einen Job an der Kunstakademie in Novi Sad an, das gibt ihr finanzielle Freiheit. Marina Abramović wendet sich ganz der Performance-Kunst zu. Es folgen Ausstellungen in Rom 1973, in Belgrad, Zagreb und Mailand, welche die junge Performancekünstlerin in Europa ins Gespräch bringen, und in denen sie sich und ihren Körper nicht schont.
Doch aus Belgrad erreichen Sie überwiegend Verrisse. "Die Zeitungen in meiner Heimatstadt zogen hemmungslos über mich her", schreibt sie in der Autobiografie. "Was ich tue, habe nichts mit Kunst zu tun, schrieben sie. Ich sei nichts weiter als eine exhibitionistische Masochistin. Man solle mich ins Irrenhaus stecken." Die Kritik trifft Marina Abramović - und spornt sie gleichzeitig an.
Performancekunst beim jungen Publikum beliebt
"Performancekunst war eine ganz neue Form, völlig ohne Referenz in der Kunstwelt. Das hat die Menschen in der Vergangenheit verwirrt und sie haben diese Ideen abgelehnt", sagt Marina Abramović heute. "Es ist aber nicht so, dass heute die Situation dramatisch anders aussieht. Es gibt immer noch viele Menschen auf der Welt - und in Ex-Jugoslawien - , die sagen, das ist doch keine Kunst! Die Anerkennung für meine Arbeit kommt überwiegend von jungen Menschen, jungen Künstlern, nicht unbedingt aus meiner Generation", so Marina Abramović im Gespräch mit der Deutschen Welle.
1975 lernt sie in Amsterdam den deutschen Künstler Ulay kennen - und lieben. Sie verlässt Belgrad. Erst macht sie im Duo mit Ulay, nach der Trennung 1988 als Solokünstlerin Karriere - in Europa und international. Ihre alte Heimat sieht sie nur, wenn sie ihre Familie besucht.
Annäherungsversuche
Immer wieder gibt es Möglichkeiten, sich anzunähern. An Marina Abramovićs fünfzigstem Geburtstag lädt der Direktor des montenegrinischen Nationalmuseums sie ein, Serbien und Montenegro auf der 47. Biennale von Venedig zu vertreten. Doch der montenegrinische Kulturminister macht eine Kehrtwende, als die Künstlerin ihre kriegskritische, blutige und teure Performance "Balkan Baroque" vorstellt. Kurzerhand wird die Künstlerin ausgeladen. Der Höhepunkt von Marina Abramović' künstlerischer Karriere lässt sich nicht mehr verhindern: Die Serbin wird zur internationalen Sektion der Biennale eingeladen - und gewinnt 1997 mit ihrer viertägigen Performance den Golden Löwen als beste Künstlerin.
Serbien buhlt heute um junge Kunst
Von einer innigen Beziehung Serbiens zu seiner Künstlerin Abramović kann keine Rede sein - ganz im Gegenteil. Dies zu ändern schrieb sich 2017 die serbische Premierministerin Ana Brnabic auf die Fahnen. Nach den Stationen Stockholm, Oslo, Kopenhagen, Bonn, Florenz und Torun, wollte sie die Retrospektive "The Cleaner" nach Belgrad holen. Mehrere Monate dauerten die Gespräche, dann wurde man sich handelseinig. Mit der Ausstellung wolle Brnabic ihren neuen Ansatz in der Kulturpolitik unterstreichen, heißt es in einem Regierungsstatement. Die Ausstellung, die das Belgrader Museum für Moderne Kunst jetzt unter dem Titel "Čistać" zeigt, sei vor allem als ein Signal an junge Künstler zu verstehen. Sie könnten sich auf die Unterstützung der heimatlichen Kulturinstitutionen verlassen, und bräuchten nicht ins Ausland abzuwandern.
Finale mit Risiko
Ob die Message beim jungen Publikum und der Kunstszene ankommt, bleibt abzuwarten. Nicht nur in Belgrad wird das Kunstevent des Jahres mit Spannung erwartet. "Nach 44 Jahren wird mein Werk in Belgrad ausgestellt - meine Geburtsstadt und mein Hintergrund hat viel zu meinem Werk beigetragen, viele meiner Ideen sind vom slawischen Kulturraum geprägt, von Serbien und ganz Ex-Jugoslawien", sagt Abramović. "Ich bin sehr aufgewühlt - und hoffe auf das Beste."