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Literatur

Marko Martin über Dissidenten

Sabine Peschel
3. Oktober 2019

Im Gedenkjahr an die Wende von 1989 hat Marko Martin ein Buch über "dissidentische Jahrhundertzeugen" veröffentlicht. Welche Wirkung hatten diese Abweichler, und was können sie heute noch bedeuten?

Schriftsteller Marko Martin
Bild: Marko Martin

Marko Martin, geboren 1970, wuchs in der DDR auf, wo er aus politischen Gründen nicht studieren durfte. Im Mai 1989 verließ er die DDR. Der Schriftsteller und Publizist ist für seine Reiseliteratur bekannt, Erzählungen und Romane, die in Israel, Kuba oder Mexiko spielen und in denen ihre Handlungsorte eine große Bedeutung haben. Auch sein neuestes Buch deklariert er als Reise: eine zu den "Zeugen eines Zeitalters". Er porträtiert Autoren wie den aus Polen geflüchteten Czesław Miłosz, Milan Kundera, Edgar Hilsenrath, den Brecht-Schüler Horst Bienek, Ahron Appelfeld oder Jürgen Fuchs aus der DDR. Einige dieser 22 dissidentischen Denker hat er noch selber getroffen, anderen folgt er auf den Spuren ihrer Werke.

Herr Martin, Sie haben dreißig Jahre nach dem Mauerfall ein Buch veröffentlicht, das um die Gedanken und das Wirken von Dissidenten kreist. Warum ist das Thema immer noch aktuell?

Ich glaube, es ist aktueller denn je. Wir erleben ja jetzt, wie die Demokratie wieder unter Feuer gerät. Viele Leute sind dann überrascht und fragen, warum gerade jetzt - es ist doch niemals so schlimm? Durch die Lektüre der Autoren, die ich erwähnt habe, Hans Sahl, Jürgen Fuchs, Arthur Koestler, Manés Sperber, George Orwell, Czesław Miłosz, lernt man, dass die Katastrophe eigentlich das Übliche ist. Dass Phasen der Harmonie und der vorgeblichen Stabilität eigentlich nie andauern und man sich deshalb ein Denken antrainieren sollte, das mit den Brüchen und auch den Zusammenbrüchen rechnet und sich deshalb human und flexibel hält. Was wir heute erleben, ist so neu nicht. Die Bücher derer zu lesen, die in den 1930er Jahren, zwischen Hitler und Stalin eingeklemmt, viel Schlimmes erfahren haben, könnte auch heutige Renitenzkräfte von uns schärfen.

Die Liedermacher Gerulf Pannach und Christian Kuhnert (1. und 2. von links) und der Schriftsteller Jürgen Fuchs (rechts) wurden 1977 aus der Haft entlassen und aus der DDR in den Westen abgeschoben. Dem Musiker Wolf Biermann (2. von rechts) war ein Jahr zuvor die Wiedereinreise in die DDR verweigert worden.Bild: picture-alliance/AP Images

Was macht den Unterschied zwischen Oppostionellen und Dissidenten aus? Muss man als Dissident ein Werk hinterlassen?

Im Lateinischen bedeutet "dissidere" ja "weggehen" von einer Ideologie. In meinem Buch geht es nicht nur um Exkommunisten, deshalb heißt es auch "Dissidentisches Denken". Dissidentisch im Sinne von weggehen vom Erwartbaren, weggehen aus Strukturen, die autoritär sind. Deshalb glaube ich, dass dieser dissidentische Habitus als beglaubigte Lebenshaltung nicht passé ist mit dem Endes des Kalten Krieges, sondern weitergeht. Wir müssen nur nach Hongkong schauen. Ob man die nun als Dissidenten oder Oppositionelle bezeichnet, ist sekundär. Es geht darum, sich nicht einschüchtern zu lassen von den Zumutungen der Macht.

Dissidenten, die aus dem Osten in den Westen kamen, wurden ja oft in die konservative, wenn nicht gar rechte Ecke gestellt. Geschah das zu Recht?

Antikommunistisch zu sein, bedeutet nicht automatisch, rechts zu sein. Ich würde sogar noch weitergehen und daran erinnern, was der deutsch-französische Publizist und Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit nach dem Fall der Mauer sagte: Eine zukünftige Linke muss antikommunistisch sein, oder sie wird nichts sein. Eine Linke, die gegen Hierarchien aufbegehrt, sollte sich ganz automatisch gegen autoritäre Regime richten. Ob das nun das Breschnew-Regime in den 1970er Jahren war oder heute das nationalistische Putin-Regime - es geht jetzt gar nicht mehr um diese rechts-links Schemen. Wobei wir gerade bemerken, dass sich alte Linke und neue Rechte sehr gut verstehen in ihrer Frontstellung gegenüber einer liberalen Zivilgesellschaft.

Welche Rolle haben dissidentische Intellektuelle, die wie zum Beispiel der Schriftsteller Jürgen Fuchs aus dem Osten in die Bundesrepublik kamen, für die westdeutsche Gesellschaft gespielt?

Leute wie Jürgen Fuchs oder der Tscheche Pavel Kohout waren liberale Antikommunisten. Sie haben die Möglichkeit des Sprechens und Widersprechens effektiv genutzt und sie im Gegensatz zu vielen West-Linken, die das als selbstverständlich genommen haben, auch geschätzt. Ich glaube, dieses flexible Denken kann auch heute noch aktuell sein.

Welche Bedeutung hatten diese Dissidenten für die DDR oder die damalige Tschechoslowakei?

Man könnte jetzt pessimistisch sagen, dass Leute wie Václav Havel keine Spuren hinterlassen haben in der gegenwärtigen tschechischen Gesellschaft. Dass sie damals Außenseiter waren und der Fakt, dass Vaclav Havel dann zum Präsidenten wurde, hat kaschiert, dass seine ethischen Reflexionen kaum Nahrung gefunden hatten in der tschechischen Gesellschaft.

Václav Havel - damals noch Theaterautor - und der politische Dissident Frantisek Kriegel 1978 bei einer privaten Vernissage in einer Hütte, die dem Schriftsteller Pavel Kohout gehörteBild: picture-alliance/dpa/CTK/L Taylor

Denn wenn sich heute junge Leute in Tschechien zu Abertausenden versammeln, um gegen eine korrupte Regierung zu protestieren, dann sind das auch die Kinder von Vaclav Havel-Lesern. Und die entdecken gerade - was man auch in vielen Blog-Einträgen lesen kann - die Texte von Havel, Josef Skorecky, Milan Kundera oder Pavel Kohout neu. Autoren, die sich schon damals, unter ganz anderen, schwierigeren Bedingungen nicht haben vorschreiben lassen, dass sie stumm bleiben gegenüber einer unverschämten Regierung.

Dieser renitente Impuls, der ist immer da. Der wird nur von Zeit zu Zeit in unterschiedlicher Intensität entweder vergessen oder wiederentdeckt. Von daher bin ich trotz allem sehr optimistisch. Es geht nichts verloren! Und gerade das ist auch das Resümee meines Buches: Es geht nichts verloren, es ist alles aufgezeichnet, und muss weiter aufgezeichnet werden. Ein Vertrauen in die Erinnerung, und ein Vertrauen in das Wort.

Und die Bedeutung für die DDR?

In der DDR haben Dissidenten wie Jürgen Fuchs oder der Liedermacher Wolf Biermann nur in ein bestimmtes Milieu hineingewirkt. Selbst im semi-kritischen, kulturbeflissenen Halb-Dissidenten-Milieu wurden eher Leute wie Heiner Müller, Christa Wolf, Christoph Hein oder Volker Braun gelesen - mit allen gedanklichen Inkonsequenzen als Resultat. Ich möchte hier nicht moralistisch von Feigheit sprechen, aber es ist dann doch eine Haltung und ein Denken, was sich ins Zivilisationskritische flüchtet, um nicht konkret von Diktatur zu sprechen. Und wenn man Herta Müller hört, oder sich in Osteuropa umhört und auf die Namen Volker Braun und Christa Wolf kommt, ist der Spott der dortigen Intellektuellen auf die angeblich widerständigen DDR-Systemoppositionellen ziemlich ätzend. Und ich würde hinzufügen, durchaus zu recht.

Wirkten denn nicht die Schriften der Oppositionellen, die den Mauerstaat verlassen hatten, in die DDR zurück? Hatten sie keine große Bedeutung?

Sie hatten eine große Bedeutung für die Stasi, die diese Leute im Westen bespitzelt hat, und sie hatten eine große Bedeutung für Kirchenkreise, für Kriegsdienstverweigerer, das heißt, den harten Kern jener, die 1989 auf die Straße gegangen sind. Als es noch ein großes Risiko war, und noch nicht Millionen auf der Straße waren, die dann ihre Forderungen gegenüber Helmut Kohl zum Ausdruck brachten. Das waren die Oppositionellen der ersten Stunde, und das sind natürlich Jürgen Fuchs-Leser, die sich seinen Appell zum Einspruch zu Herzen genommen haben. Wobei ich unbedingt sagen muss: Es geht nicht allein um die gute Gesinnung, es geht zuvorderst auch um den literarisch-ästhetischen Mehrwert, nämlich wie eine renitente Haltung auch literarisch interessant ist. Es geht nicht nur um gut gemeinte Didaktik.

"Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters", Die Andere Bibliothek 2019, 540 Seiten

Das Interview führte Sabine Peschel im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin.

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