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SportGlobal

Marokko rüttelt an gewohnter Dominanz

Mark Meadows
12. Dezember 2022

Marokko ist nicht nur die erste afrikanische Mannschaft, die das WM-Halbfinale erreicht hat, sondern auch erst das dritte Team von außerhalb Europas und Südamerikas, dem dieses Kunststück gelungen ist.

Die marokkanischen Spieler bejubeln den Siegtreffer gegen Portugal
Marokko hat sich überraschend als erste afrikanische Mannschaft in ein WM-Halbfinale gespieltBild: Martin Meissner/AP Photo/picture alliance

Die alte Garde des Fußballs hatte bei den letzten vier Weltmeisterschaften alle Halbfinalplätze belegt und wird auch in Katar mit Argentinien, Kroatien und Frankreich drei Halbfinalisten stellen. Dass Mannschaften aus anderen Konföderationen außerhalb Europas und Südamerikas die Runde der letzten Acht erreichen, ist die absolute Ausnahme.

Vor Marokko haben nur die Vereinigten Staaten bei der Weltmeisterschaft 1930 und Südkorea 2002 die europäische und südamerikanische Dominanz der letzten Vier durchbrochen. Geld und Tradition sind die wichtigsten Faktoren für den Erfolg der immer gleichen Mannschaften. Doch in einer globalisierten Welt hatten die Spieler und Fans von Mannschaften aus Asien, Afrika und Nordamerika schon früher darauf gehofft, die gläserne Decke zu durchbrechen. "Du kannst weniger Talent, weniger Qualität und weniger Geld haben, aber wenn du Hoffnung hast, hart arbeitest, kämpfst und glaubst, kannst du alles erreichen", sagte Trainer Walid Regragui auf einer Pressekonferenz.

Die unglaubliche Leistung Marokkos, die durch den großen Zuspruch bei der ersten arabischen Weltmeisterschaft begünstigt wurde, könnte jedoch eine einmalige Sache sein.

Turnierzeitpunkt liegt günstig für außer-europäische Mannschaften

Bevor Marokko in Katar den Sprung ins Viertelfinale schaffte, war das zuletzt Costa Rica 2014 gelungen. Das Team verlor im Elfmeterschießen gegen die Niederlande. Aus Afrika erreichten neben Marokko auch Ghana (2010), Senegal (2002) und Kamerun (1990) das Viertelfinale.

Der frühere Arsenal-Trainer Arsène Wenger hält den Zeitpunkt des Turniers, das mitten in die europäische Ligasaison fällt, für einen Vorteil für Mannschaften wie Marokko, die sich deutlich länger vorbereiten konnten als ihre europäischen Konkurrenten. "Ich war sehr gespannt darauf, wie sich die Mannschaften darauf einstellen, keine Zeit zur Vorbereitung zu haben. Denn wir wissen, dass eine Weltmeisterschaft dadurch gewonnen und entschieden wird, wie schnell die Mannschaften lernen", erklärte Wenger, der aktuell der technischen Beratergruppe der FIFA für diese Weltmeisterschaft angehört.

Marokko hat auf jeden Fall schnell gelernt und wirkte bei seinem 1:0-Viertelfinaltriumph weniger müde als Portugal.

Veränderung der Regeln begünstigt schwächere Teams

Ein weiterer Grund dafür, dass Marokko in Katar erfolgreicher war als bei anderen Weltmeisterschaften, ist die Aufstockung des Kaders. In Katar sind 26 Spieler erlaubt, bei den vorherigen Weltmeisterschaften waren es maximal 23. Die FIFA reagierte damit auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie und den ungewöhnlichen Zeitraum der WM. Dies hat Trainer Regragui, der selbst erst seit drei Monaten im Amt ist, mehr Möglichkeiten gegeben. "Wir sind 26 Spieler. Wie ich schon sagte: Um im Wettbewerb weit zu kommen, werden wir alle brauchen, und das ist auch der Fall."

Auch die neu eingeführte Option, fünf statt nur drei Wechsel pro Team vornehmen zu können, sei ein Vorteil für Mannschaften wie Marokko, findet Ex-Trainer Wenger: "Die fünf Auswechslungen geben die Möglichkeit, in den letzten Minuten des Spiels besser zu verteidigen."

Marokkos Torwart Yassine Bounou hat erst einen Gegentreffer kassiertBild: Luca Bruno/AP Photo/picture alliance

Der frühere deutsche Weltmeister Jürgen Klinsmann ist der Meinung, dass es in Katar vor allem auf die Finesse der geschicktesten Spieler ankommt, die die Abwehrriegel der Mannschaften knacken müssen. "Wenn die Spiele sehr kompakt und eng werden, ist man auf Spieler angewiesen, die die Fähigkeit haben, andere zu überrumpeln", erklärte er und meinte damit vor allem Argentinien, "Südamerika sticht in dieser Hinsicht heraus, weil es zu ihrer Art gehört, Dinge zu tun."

Marokkos Glück ist es, dass 14 Spieler des Kaders außerhalb des Landes geboren wurden und in ihren jungen Jahren unterschiedliche Erfahrungen gesammelt haben. Auch Star-Torhüter Yassine Bounou, der erst einen Gegentreffer hinnehmen musste, in Kanada geboren wurde und und beim FC Sevilla unter Vertrag steht, gehört dazu.

Überraschungseffekt wiederholbar? Vielleicht mit Heimvorteil

Mit der Einführung einer Weltmeisterschaft mit 48 Mannschaften im Jahr 2026 wird sich die Zahl der qualifizierten Länder erhöhen, aber ob sich dadurch die Chancen auf den Einzug von mehr Überraschungsteams ins Halbfinale erhöhen, bleibt abzuwarten. Im Gegenteil, die größere Anzahl von Mannschaften könnte die Qualität der Teams eher mindern.

Als die USA 1930 in die Runde der letzten Vier einzogen, war der Fußball noch ein ganz anderes Spiel: Nur 13 Mannschaften aus drei Konföderationen nahmen an dem ersten Turnier teil, und die USA hatten sechs in Großbritannien geborene Spieler. Südkorea erreichte das Halbfinale, als es das Turnier 2002 gemeinsam mit Japan ausrichtete - und profitierte dabei von einigen umstrittenen Schiedsrichterentscheidungen.

Die italienischen Fans beschweren sich bis heute über die Schiedsrichterleistung bei der Achtelfinalniederlage gegen die Koreaner, und die Tatsache, dass Südkorea diese Leistung seither nicht mehr verbessert hat, lässt vermuten, dass der Heimvorteil damals eine große Hilfe war. Die Vereinigten Staaten, Mexiko und Kanada hoffen, dass ihnen als Co-Gastgeber 2026 ein ähnlicher Effekt zugute kommt. Mexiko erreichte bei der letzten Austragung 1986 das Viertelfinale, doch der Gastgebervorteil half diesmal dem kleinen Katar nicht, das alle drei Spiele verlor.

Australiens Trainer Graham Arnold ist der Meinung, dass der Abstand gar nicht so groß ist, wenn man sich die Überraschungsergebnisse dieses Turniers ansieht. Selbst wenn man Marokkos Siege gegen Belgien, Spanien und Portugal außer Acht lässt, hat Saudi-Arabien gegen Argentinien gewonnen, Deutschland verlor gegen Japan und Kamerun schlug Brasilien. "Asien wirft eine Menge Geld in den Fußball", sagte er. "Die Leute können sich zu Hause zurücklehnen und denken, dass Saudi-Arabien vielleicht nicht so gut ist, oder Japan. Schauen Sie sich an, was sie erreicht haben."

Doch solange Mannschaften außerhalb Europas und Südamerikas nicht regelmäßig das Halbfinale erreichen, wird der Status quo mit seinem Geld, seiner Geschichte und seiner Macht wohl weiterhin dominieren.

Aus dem Englischen adaptiert von Olivia Gerstenberger.