Wahlen mit wenig Aussicht auf Veränderung
7. September 2021Am Mittwoch entscheiden die Marokkaner über die Zusammensetzung ihres neuen Parlaments. Dessen 395 Plätze sind neu zu wählen unter Anwendung des neuen Wahlgesetzes. Zwar sind marokkanische Wähler an dessen häufige Veränderung gewöhnt. Doch ein Punkt der jüngsten Reform hat für hitzige Diskussionen gesorgt, nämlich die Veränderung des so genannten Wahlkoeffizienten.
Diese bringt eine bedeutsame Modifikation mit sich: Galt als Berechnungsgrundlage für die Verteilung der Parlamentssitze bislang die Zahl derer, die tatsächlich zur Wahl gingen, sollen dazu nun die Zahl der grundsätzlich Wahlberechtigten herangezogen werden - also auch jener Bürger, die ihr Wahlrecht nicht wahrgenommen haben. Analysten zufolge werden die Wahlkreise in keinem anderen Land der Welt auf diese Weise berechnet.
Geändertes Wahlrecht
"Theoretisch wird es keiner Partei mehr möglich sein, mehr als einen Sitz pro Wahlkreis zu erhalten", schreibt die Analystin Rania Elghazouli in einem Beitrag auf der Website der Friedrich-Naumann-Stiftung. "Keine politische Partei wird rechnerisch mehr in der Lage sein, mehr als 100 Sitze im Parlament zu erreichen. Das macht es sehr schwierig, einen klaren Sieger zu ermitteln."
So dürfte die gemäßigte islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) - sie erhielt bei den letzten beiden Wahlen jeweils die meisten Stimmen - aller Voraussicht nach bis zu einem Drittel ihrer bisherigen Sitze verlieren. Im Gegenzug werden vor allem kleinere Parteien nun größere Chancen haben, ins Parlament einzuziehen. Allerdings dürften auch einige etablierte Parteien wie etwa die Hauptkonkurrentin der PJD, die Monarchie-freundliche Partei für Authentizität und Modernität (PAM), von der Änderung profitieren.
"Aufteilung und Kontrolle"
In Marokko habe es ähnliche Einschränkungen freilich schon immer gegeben, sagt der auf den Maghreb spezialisierte Politikwissenschaftler Mohamed Daadaoui von der Oklahoma City University. Das Königshaus betreibe den politischen Parteien gegenüber eine Strategie der "Einschränkung, Eingrenzung, Aufteilung und Kontrolle". So wolle das Königshaus sicherstellen, dass es in wichtigen Fragen stets selbst das letzte Wort habe, so Daadaoui im DW-Gespräch.
Niemand könne unter der nun gültigen Regelung eine schlagkräftige Mehrheit allein für sich gewinnen, so Daadaoui. Die Notwendigkeit, eine Mehrheit zu gewinnen, zwinge dazu, Koalitionen mit politisch ganz anders ausgerichteten Parteien einzugehen. "Die Änderung des Wahlkoeffizienten macht auch das schwierig".
Die Wahlen dürften auch an der politischen Entwicklung Marokkos nicht viel ändern, erwartet der Analyst. "Stattdessen dienen sie vor allem dazu, das bestehende Regime und System zu legitimieren. Sie sind auf eine Weise angelegt, dass ihr Ausgang politisch keine allzu großen Auswirkungen hat."
Schwache Beteiligung erwartet
Die Wahlbeteiligung werde aufgrund der Enttäuschung über das politische System und zusätzlich auch wegen der COVID-19-Pandemie noch niedriger sein als bei den letzten Wahlen im Jahr 2016, prophezeit Daadaoui. Damals hatten gerade einmal 43 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben.
Tatsächlich erwartet das marokkanische Institut für Politikanalyse diesmal eine Wahlbeteiligung von nur knapp einem Drittel: Nur 32 Prozent der rund 1400 Befragten beabsichtigten ihre Stimme abzugeben, informiert das Institut über die Ergebnisse einer Umfrage. Darüber hinaus bekundeten drei Viertel - 74 Prozent der Befragten - , sie hätten kein Vertrauen in die politischen Parteien. 70 Prozent erklärten zudem, auch insgesamt kein Vertrauen in das Parlament zu haben.
Zwar drängen beachtliche Teile der marokkanischen Gesellschaft weiter auf Reformen und mehr Bürgerrechte. Doch Unruhen erwartet Experte Daadaoui auch im Zuge der Wahlen nicht. "Es sind nicht die ersten Wahlen, die politisch folgenlos bleiben dürften" so der Analyst. "Die Menschen wissen im voraus, dass die Wahlen nur begrenzte Wirkung haben und vor allem dazu dienen, die Fassade aufrechtzuerhalten."
Wenig Vertrauen in Volksvertreter
Khadija, eine 28-jährige Studentin aus Rabat, sieht das ganz ähnlich. "Wenn die Marokkaner zur Wahl gehen, hoffen sie im Grunde auf Veränderungen", sagt sie im gespäch mit der DW. "Aber letztlich bemerken wir dann, dass es keine große Veränderung gegeben hat."
"Wir brauchen Abgeordnete, die für das Land arbeiten und nicht nur für sich selbst", ergänzt Zakaria, ein 38-jähriger Beamter. "Die Menschen sind es leid, immer wieder festzustellen, dass Wahlen keine Veränderungen bringen."
Ein ähnliches Resümee zieht Bauke Baumann, Leiter des Büros der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung in Rabat. "Ich habe noch niemanden getroffen, der einen Wechsel der Regierung mit Aussicht auf ernsthafte politische Veränderungen verbindet", so Baumann.
Allerdings sieht Baumann bei der bevorstehenden Abstimmung auch positive Aspekte. Zwar seien die Erwartungen der Wähler gering. Dennoch, hofft Baumann, werde die neue Regierung in der Lage sein, das im Mai dieses Jahres angekündigte nationale Entwicklungsmodell umzusetzen.
"Frage des politischen Willens"
Der Entwicklungsplan wurde von König Mohammed VI. selbst in Auftrag gegeben. Er umfasst ehrgeizige Ziele wie die Erhöhung der Einkommen, die Steigerung privater Investitionen, die bessere Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen des Landes sowie die Erhöhung der Frauenerwerbsquote. Auch will er gesellschaftliche Missstände wie Eheschließungen von Minderjährigen beheben und generell die gesellschaftliche Integration vorantreiben.
"Es wäre wichtig, dass die neue Regierung die Empfehlungen dieses Berichts in die Tat umsetzt", sagt Baumann. "Die Frage ist aber, inwieweit sich die Empfehlungen tatsächlich umsetzen lassen. Denn das ist natürlich auch eine Frage des politischen Willens - der Regierung wie auch aller anderen Institutionen."
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.