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PolitikNahost

Marokko: Wissenschafts-Kritik als Druckmittel?

31. August 2021

In marokkanischen Medien steht eine Studie der deutschen Maghreb-Forscherin Isabelle Werenfels unter Beschuss. Kritiker werfen ihr eine anti-marokkanische Agenda vor. Doch um Wissenschaft geht es wohl nur vordergründig.

Botschaft des Königreichs Marokko in Berlin
Funkstille zwischen Deutschland und Marokko: Sitz der marokkanischen Botschaft in BerlinBild: Sascha Steinach/imago images

Selbst dem marokkanischen König war die Studie offenbar eine Bemerkung wert. Marokko, erklärte Mohammed VI. in seiner auch auf Französisch dokumentierten"Rede an die Nation" vom 20. August 2021, sehe sich derzeit einer "absichtlichen und vorsätzlichen Aggression" gegenüber. Die "Feinde" der territorialen Integrität des Königreichs wünschten nicht, dass Marokko eine freie, starke und einflussreiche Macht bleibe. Zum Nachweis der Aktivitäten dieser Feinde - "vor allem europäische Länder" - bezog er sich auf nicht näher bezogene "Berichte", die "die Grenzen des Hinnehmbaren" überschritten hätten und "dafür plädierten, die Entwicklung des Landes einzuschränken."

Begleitet wurden die Bemerkungen von einer Reihe von Artikeln in marokkanischen Medien - darunter auch englischsprachige wie Morocco World News oder The North Africa Post -, die sich in teils scharfem Ton mit einer im November vergangenen Jahres veröffentlichten Studie der Maghreb-Forscherin Isabelle Werenfels von der Berliner "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) auseinandersetzten.

Der Artikel selbst befasst sich mit der erfolgreichen Afrika-Politik Marokkos. Diese Politik, so Werenfels in ihrer Analyse, habe das Königreich zu einem einflussreichen Staat in Afrika gemacht - im Unterschied zu den beiden Nachbarländern Algerien und Tunesien, die politisch wie wirtschaftlich bestenfalls bescheidene Erfolge verzeichneten. Im Sinne einer Kohäsionspolitik plädierte Werenfels in ihrem Artikel für eine stärkere Förderung der beiden Nachbarländer. In den "Marocco World News" wurde ihr das als Plädoyer für den Versuch ausgelegt, "das Aufkommen einer neuen von westlichem Einfluss unabhängigen Macht" - eben Marokko - zu verhindern.

"Absichtliche und vorsätzliche Aggression": der marokkanische König Mohammed VIBild: picture alliance/dpa/TASS/A. Sherbak

Verärgerung über Deutschland

Knapp neun Monate hatte der Artikel bereits auf der Webseite der Stiftung Wissenschaft und Politik gestanden, als er plötzlich zur Zielscheibe marokkanischer Medien wurde. Erstaunlich sei das nicht, deutet Isabelle Werenfels im Gespräch mit der Deutschen Welle an. "Die Debatte kam in Gang, nachdem der damalige US-Präsident Donald Trump im Dezember 2020 erklärt hatte, er werde die Westsahara als marokkanisches Territorium anerkennen." Deutschland sei dieser Linie aus völkerrechtlichen Bedenken nicht gefolgt. "Mein Papier war einfach sehr hilfreich dabei, eine Argumentationslinie gegen die deutsche Außenpolitik zu konstruieren. Dabei geht es nicht so sehr um mich als um das deutsch-marokkanische Verhältnis insgesamt." Dieses ist durch die deutsche Weigerung, die marokkanischen Ansprüche auf die Westsahara anzuerkennen, seit geraumer Zeit belastet. Im Mai zog Marokko seine Botschafterin aus Berlin zurück. Seitdem herrscht praktisch Funkstille zwischen Rabat und Berlin, die Beziehungen liegen auf Eis.

Im Einzelnen könne sie die Kritikpunkte nur schwer nachvollziehen, sagt Werenfels. "Offenbar will Marokko die Spannungen noch einmal eskalieren lassen und Deutschland als diejenige Nation darstellen, die innerhalb Europas die marokkanische Entwicklung bremsen möchte."

Scharfzüngige Kritik

Die Kritik der marokkanischen Blätter ist teils sehr scharf gehalten. Dem Aufsatz mangele es an wissenschaftlicher Strenge, und er bleibe jeglichen Beleg schuldig, heißt es etwa in dem französischsprachigen Nachrichtenmagazin "Challenge".

Sie habe den Eindruck, die Kommentatoren konzentrierten sich vor allem auf einen Satz in ihrer Studie, die im Übrigen wie alle SWP-Papiere einen strengen internen Faktencheck und Begutachtungsprozess durchlaufen habe, so Werenfels im DW-Gespräch. Angesichts der starken Entwicklung Marokkos hatte die Autorin empfohlen, die Europäische Union solle auf afrikanische Integration und eine von mehreren Seiten getragenen Kooperation zwischen der EU, dem Maghreb und Subsahara-Afrika setzen. "Dies, heißt es in dem Aufsatz, "könnte Marokkos hegemoniale Ansprüche relativieren."

Medial unter Beschuss: die Maghreb-Forscherin Isabelle WerenfelsBild: privat

Damit war das Wort gefallen, das die Kommentatoren fortan in den Mittelpunkt ihrer Kritik stellten: "Hegemonie". "Sie lasen den Satz so, als plädierte ich dafür, Marokko zu bremsen", so Werenfels. "Dabei sage ich an späterer Stelle ganz deutlich, dass es nicht darum gehen könne, entweder die marokkanische oder die algerische und tunesische Politik zu stärken, die Staaten also gegeneinander auszuspielen - sondern im Gegenteil, konstruktive Ansätze generell zu fördern", so die Politikwissenschaftlerin. Angesichts der im Lande vorhandenen Kapazitäten und der enormen Fortschritte, die Marokko in seiner Afrikapolitik erzielt habe, sei aber auch "klar, dass das Land mit Blick auf Subsahara-Afrika weniger auf technische Expertise aus Deutschland angewiesen ist als Tunesien oder Algerien." Algerien hat traditionell ein angespanntes Verhältnis zu Marokko. Ende August setzte das Land seine diplomatischen Beziehungen zu dem benachbarten Königreich aus.

Anti-kolonialistische Tonlage

Allerdings könnte hinter der Kritik noch ein Weiteres stehen, sagt Werenfels. Im Nachhinein frage sie sich, ob die Kritik womöglich nicht in erster Linie auf dem "Hegemonie"- Begriff gründe, sondern auf einer anderen Äußerung. "Ich bezog mich nämlich auf die Aussage zivilgesellschaftlichen Akteure in Marokko, die kritisieren, dass es einen vergleichsweise geringen 'Trickle down'-Effekt der Afrikapolitik gebe, dass also von dem erwirtschafteten Wohlstand relativ wenig bei der breiteren Bevölkerung ankomme. Das ist natürlich ein sehr sensibler Punkt, der ebenfalls einigen Unmut ausgelöst haben könnte."

In manchen Kritiken schwingt eine zumindest latent anti-kolonialistische Tonlage mit, gerichtet weniger gegen Werenfels als gegen Europa insgesamt. Einige westliche Organisationen "sind nur an dem Nutzen interessiert, den Europa ernten kann, und wie sich das Aufkommen einer neuen, vom westlichen Einfluss unabhängigen Macht verhindern lasse", heißt es etwa in Morocco World News.

Ungelöster Westsahara-Konflikt: Szene aus einem Flüchtlingslager der Sahrauis in Algerien.Bild: DW/Hugo Flotat-Talon

Wirtschaftliche Integration

Vorwürfe dieser Art seien mit Blick auf die großen Investoren in Afrika wie China und die USA - und zunehmend auch die Türkei und die Golfstaaten - absurd, sagt Werenfels. Einzig Frankreich könnte in Westafrika das Königreich Marokko als Konkurrenten empfinden. Die EU insgesamt habe erheblich zurückhaltendere Ambitionen. "Und ich habe ja auch geschrieben, dass Europa zu wenig tue, um die wirtschaftliche Integration innerhalb Afrikas zu fördern", so Werenfels.

Die EU müsse darauf achten, dass sie bei den Verhandlungen zu Freihandelsabkommen mit den Maghreb-Staaten mögliche Folgen für die im Januar 2020 gestartete afrikanische Freihandelszone berücksichtige. Denn es gebe nicht nur in Marokko Stimmen, die bilaterale Verträge zwischen der EU und den Maghreb-Staaten als Versuch zur Unterminierung der afrikanischen Integration sähen. "Tatsache ist:  Alle würden davon profitieren, wenn sich Afrika stärker integrierte und die Trennung zwischen Nord- und Subsahara-Afrika wirtschaftlich stärker aufgehoben würde."

Schwäche für Algerien?

Persönlich angreifbar könnte sich Werenfels insofern gemacht haben, als sie auf ihrem Twitter-Profil ihre große Schwäche für Algerien bekundete. "Die gründet aber auf dem Umstand, dass ich zu Algerien promoviert habe. Im Nachhinein stellt sich dieses Bekenntnis natürlich als Fehler heraus - auch wenn ich in zahllosen Tweets die algerische Politik immer wieder kritisiert habe." Und es sei auch keinesfalls so, dass die algerische Regierung sie als pro-algerisch wahrnehme, so Werenfels, eher sei wohl das Gegenteil der Fall: "Ich erhalte seit 2019 trotz mehrfacher Anträge kein Visum für Algerien mehr."

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Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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