Marokko Lage
24. Oktober 2011Wie in vielen anderen arabischen Staaten gingen auch in Marokko zu Beginn des Arabischen Frühlings im Februar tausende Menschen auf die Straßen von Casablanca und Rabat. Sie demonstrierten für Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und mehr politische Teilhabe. Über Facebook und Twitter erreichte die Protestwelle weite Teile des Landes. Der Zorn des Volkes war ähnlich groß wie in Tunesien oder Ägypten. König Mohammed VI. reagierte. Doch nicht mit Panzern, sondern mit einer umfassenden Verfassungsreform. "Damit konnte er den Volkszorn besänftigen", erklärt Mohamed Darif, Politologe an der Universität Casablanca. "Anstatt die Demonstrationen mit Gewalt zu unterdrücken, wie im Fall von Tunesien, Ägypten, Libyen oder Syrien, war der marokkanische König eher bereit, auf die Forderungen des Volkes einzugehen."
Der König im Mittelpunkt der Reformen
Am 1. Juli stimmten über 98 Prozent der Marokkaner für die Verfassungsreform zur Einschränkung der Machtbefugnisse von König Mohammed VI. Die Reform stärkt den Einfluss des Ministerpräsidenten, des Parlaments und der Justiz und verbessert die Stellung der Parteien. Nicht der König, sondern der Premier erhält nun das Recht, Minister zu nominieren und zu entlassen. Auch die Berbersprache "Tamazight" soll neben Arabisch in der Verfassung verankert werden.
Die Welle der Reformen begann in Marokko aber nicht erst mit dem Arabischen Frühling, so Darif. König Mohammed VI. sprach bereits seit seinem Amtsantritt 1999 von Demokratie, Dezentralisierung, Rechtsstaat und Bürgerrechten. Er unterstützte eine Reihe gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Forderungen. So zum Beispiel die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen unter seinem Vater, in den sogenannten bleiernen Jahren. Er ließ das Familienrecht ändern, was den Frauen mehr Rechte verlieh. Mit der Einführung der Berberdialekte in den Medien sowie in den Schulen konnte er ethnische Aufstände wie in Algerien verhindern.
"Marokko hat schon immer Tendenzen von Demokratie und Redefreiheit gehabt", erklärt Mohamed Darif. "Die Zivilgesellschaft war immer präsent. Es gab immer Parteien, die miteinander konkurrierten und koalierten. Und es gab immer international anerkannte Menschenrechtsorganisationen, die das politische System kritisieren durften."
Auf wirtschaftlichem Gebiet kann der König seine größten Erfolge verbuchen. In den vergangenen zehn Jahren wuchs die Wirtschaft um mehr als vier Prozent pro Jahr. Die Infrastruktur ist besser geworden, die Autobahnen werden immer länger und 2015 sollen sogar die ersten Hochgeschwindigkeitszüge in Marokko fahren. Außerdem ist die Arbeitslosigkeit zurückgegangen.
Die Reform geht nicht weit genug
Doch was für viele Marokkaner einen historischen Wandel bedeutet, ist für manche bloß eine Täuschung und Manipulation des Volkes. Die neue Verfassungsänderung gehe nicht auf die Forderungen der marokkanischen Straße ein, so Ouidade Melhaf, ein aktives Mitglied der "Bewegung 20. Februar". Die Vereinigung besteht hauptsächlich aus jungen Menschen mit unterschiedlicher politischer Einstellung, von Linksradikalen bis hin zu Islamisten. Sie gehen bis heute noch jeden Sonntag auf die Straße und protestieren in Casablanca oder Rabat.
Die Bewegung ruft außerdem dazu auf, die im November anstehenden Wahlen zu boykottieren, wie sie es bereits beim Referendum über die Verfassungsreform getan haben. Dafür gibt es mehrere Gründe, meint die junge Aktivistin Ouidade. "Die gleiche Regierung ist noch an der Macht, das Innenministerium ist immer noch für die Beobachtung und Organisation der Wahlen zuständig. Dieses Ministerium hat eine dunkle Geschichte, was die Manipulation von Wahlen angeht." Die "Bewegung 20. Februar" will durch mehr Druck weitreichendere Reformen durchsetzen. Vor allem kämpfen sie für mehr Mitbestimmung und gegen die Korruption im Land. "Eine Demokratie im Rahmen der Monarchie funktioniert nur mit einer richtigen parlamentarischen Monarchie, alles andere wäre keine Demokratie", betont die junge Aktivistin.
Das Potenzial für soziale Unruhen ist da
Der marokkanische König ist weiterhin oberster Befehlshaber der Armee. Er kann das Parlament auflösen und hat das letzte Wort in rechtlichen und religiösen Fragen. Trotzdem gibt es in Marokko keine breite Bewegung, welche die völlige Abschaffung der Monarchie fordert - nicht einmal die "Bewegung 20. Februar". Doch für Ouidade sind die Umwälzungen in Marokko noch lange nicht zu Ende. "Die These, Marokko sei eine Ausnahme, ist falsch und nicht mehr gültig", sagt Ouidade. "In Marokko gab es auch große Demonstrationen, vor allem in den marginalisierten Kleinstädten und Dörfern. Außerdem war die Gewalt des Systems gegenüber den Demonstranten immer präsent."
Auch der Politologe Mohamed Darif befürchtet, dass die Wahlergebnisse und eventuelle Wahlmanipulationen das Volk enttäuschen könnten. Denn an der Parteienlandschaft habe sich im Kern nichts geändert. Er erwartet keine große Änderung in der politischen Konstellation in Marokko. "Bis jetzt sind keine neuen Parteien entstanden, die besser mit den Anforderungen und den Erwartungen der Demokratiebewegung umgehen können."
Durch neue Medien Demokratie erzwingen
Das Potenzial für neue soziale Unruhen nach den Wahlen sei deshalb nicht zu unterschätzen, meint auch Tarik Nesh Nash. Der junge marokkanische Software-Ingenieur hat eine Webseite und eine Art Frühwarnsystem für die Beobachtung und Kontrolle der Parlamentswahlen erstellt. "Die Webseite 'Marsad' gibt den Bürgern die Chance, den Wahlprozess zu beobachten und zu begleiten. "Mit Kommunikationstechniken wie SMS und sozialen Netzwerken sollen Einzelheiten über Wahlmanipulationen bekannt werden. Tarik will mit dieser Webseite freie und faire Wahlen in seinem Land ermöglichen. Er will mit dieser Webseite dazu beitragen, dass die Bürger aktiver am poltischen Geschehen in Marokko teilnehmen.
Das ist nicht das erste Mal, dass Tarik Nesh Nash für mehr Transparenz durch neue Medien sorgt. Schon seine Webseite reform.ma zur Analyse und Abstimmung über die Verfassungsreform im Juli war ein großer Erfolg.
Autor: Amine Bendrif
Redaktion: Stefanie Duckstein