1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Marokkos Migrationsdruck auf die EU

Stefanie Claudia Müller
11. Dezember 2020

Der König lebt in Luxus, während die Jugend des Landes auf die Kanaren flüchtet. Prestigeprojekte wie ein neuer Hafen und hohe Militärausgaben helfen der Bevölkerung nicht.

Migranten auf den Kanaren
Migranten aus Marokko, die Ende Oktober 2020 mit einem Holzboot an der Küste von Gran Canaria angekommen sindBild: Javier Bauluz/AP/dpa/picture alliance

Hamza Chimine ist 24 Jahre alt. Er liebt seine Heimat Marokko, sieht aber seine Zukunft in Europa: "Ich bin IT-Entwickler. Ich will Arbeit und in meinem Land gibt es keine.”

Vor wenigen Wochen hat er sich in einem Fischerboot von der Westsahara nach Gran Canaria bringen lassen, wie viele andere junge Marokkaner. "Die Überfahrt hat zwei Tage gedauert und 2000 Euro gekostet”, erzählt der Marokkaner, der nach einem Aufenthalt im Hotel auf Gran Canaria gerade mit der Fähre auf dem spanischen Festland, im andalusischen Huelva angekommen ist.

Da haust er jetzt auf der Straße: "Ich habe kein Geld für eine Wohnung”. Daran war er selbst in Marokko nicht gewohnt, wo Covid-19 nur ein Problem von vielen ist. Für die 36 Millionen Einwohner Marokkos gibt es weder Arbeitslosenhilfe, noch Kurzarbeit, noch  Sozialhilfe.

"De facto arbeiten nur 47 Prozent der marokkanischen Bevölkerung, und davon ein Drittel in der Landwirtschaft. Die erlebt derzeit sehr trockene Zeiten und steht im harten Wettbewerb mit Spanien und Europa”, erklärt der Maghreb-Experte Gonzalo Escribano vom Think Tank "Real Instituto Elcano” in Madrid.

In Marokko liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei unter 3000 Euro. Der Nachbar Spanien kommt auf mehr als 27.000 Euro.

Vorzeigehafen Tanger Med

Seit seinem Amtsantritt 1999 hat Marokkos König, der 57-jährige Mohammed VI., das Land modernisiert. Frauen werden hier besser behandelt als in den meisten nordafrikanischen Nachbarländern, auch geht Marokko hart gegen Terroristen vor. Doch an der Armut der breiten Massen hat sich in den vergangenen Jahren nicht viel geändert.

Ein von der Autoindustrie genutztes Terminal am Hafen Tanger Med im Juni 2019Bild: Reuters/Y. Boudlal

Die Regierung ist stolz auf einen der modernsten und größten Häfen des Kontinents, Tanger Med . Das Volumen der im Hafen umgeschlagenen Waren hat im vergangenen Jahr um fast 40 Prozent zugelegt auf den Rekordwert von 4,8 Millionen TEU (20-Fuß-Standardcontainer). So will das Land seine Abhängigkeit von spanischen Häfen verringern.

"Aber für die normale Bevölkerung hat der Hafen kaum Bedeutung. Das Geld und die Jobs bleiben vor allem bei den internationalen Investoren und Betreibern hängen”, sagt Maghreb-Experte Escribano.

Die Nachrichten über die jungen Marokkaner, die wie Hamza in den vergangenen Wochen zu Tausenden auf die Kanaren geflüchtet sind, verärgern nicht nur die Tourismusverantwortlichen dort, sondern auch viele Menschenrechtler und spanische Sicherheitsexperten.

Rund 500 Menschen sind bereits auf dem Weg in eine bessere Zukunft ertrunken, während jährlich umgerechnet 250 Millionen Euro der marokkanischen Staatseinnahmen für das Luxuslebens des Palastes ausgegeben werden, wie "El Español” berichtet. König Mohammed VI. ist laut Forbes inzwischen der fünfreichste Mann Afrikas.

Einer der reichsten Männer Afrikas: Marokkos König Mohammed VI.Bild: picture alliance/dpa/TASS/A. Sherbak

"Erpressungstaktik"

Der Herausgeber von "El Español”, Pedro J. Ramirez, ruft in einem Video die spanische Regierung dazu auf, etwas gegen diese "seit Jahren praktizierte Erpressungstaktik” des marokkanischen Königs zu unternehmen, die seiner Ansicht nach darin besteht, von den EU-Ländern Belohnungen für das Zurückhalten der Migranten zu erwarten.

Unterdessen ist auf der Seite des marokkanischen Außenministeriums zu lesen, Deutschland habe dem Land gerade knapp 1,4 Milliarden Euro Wirtschaftshilfe versprochen.

Auch die EU denkt über weitere Wirtschaftsförderungen für Nordafrika nach, um die Zahl der Migranten zu reduzieren, die aus Nordafrika nach Europa kommen. Der holländische Marokko-Experte Jan Hoogland bringt das auf Twitter klar in Verbindung mit der aktuellen Migrationswelle.

"Wir werden sehen, wie der Druck auf die Kanaren langsam wieder zurückgeht”, sagt Francisco Javier Álvarez von der Universität Carlos III in Madrid. Der Strafrechtler befasst sich unter anderem mit der irregulären Einwanderung nach Spanien.

Álvarez sagt, es ärgere ihn, dass ausgebildete Menschen wie Hamza keine Zukunft in Marokko haben, während die Familienholding des Königs ein Vermögen verdiene. Nach Angaben der spanischen Online-Zeitung "El Español” kontrolliert die Holding "Al Mada” 30 Prozent der marokkanischen Wirtschaft und ist nach Südafrika inzwischen der größte Investor auf dem afrikanischen Kontinent.

Solarstrom und Wasserstoff

Alvarez weist zudem darauf hin, dass sich viele Marokkaner in Spanien radikalisieren, oft in Gefängnissen. Gerade erst wurde ein marokkanischer Terrorverdächtiger in Getafe bei Madrid festgenommen.

Die sich zuspitzende Situation hat die spanische Regierung dazu bewogen, nach etwas mehr als fünf Jahren die bilateralen Gipfeltreffen mit Marokko wieder aufzunehmen. Das erste soll am 17. Dezember in Rabat stattfinden. Parallel dazu wird es in der marokkanischen Hauptstadt ein Wirtschaftsforum geben.

Im Gegensatz zu anderen Maghreb-Staaten hat Marokko keine nennenswerten Bodenschätze außer Phosphat. Das Land hängt zudem von den fossilen Energiequellen der Nachbarn ab.

"Deswegen stehen jetzt Waffen und Solarstrom ganz oben auf der marokkanischen Agenda”, sagt Escribano vom Think Tank "Real Instituto Elcano”. 2018 erreichte der Anteil der erneuerbaren Energien 38 Prozent der marokkanischen Stromproduktion, bis 2030 soll er auf 52 Prozent steigen - auch mit Hilfe von deutschen Investitionen und Firmen wie Siemens. Marokko soll nach einer Vereinbarung mit der Bundesregierung im Sommer bald Wasserstoff nach Deutschland liefern.

Viel Geld für Rüstung

"Obwohl die Armut durch die Pandemie gewachsen ist, steigen die Militärausgaben des Landes enorm”, sagt Escribano. Umgerechnet mehr als vier Milliarden Euro waren es laut der spanischen Onlinezeitung "El Español” in diesem Jahr, im kommenden Haushalt gehen zwölf Prozent aller Mittel an das Militär.

Marokko rüstet nach Meinung des Juristen Álvarez vor allem gegen Algerien. Der Nachbar und frühere Feind fordert nach wie vor die Unabhängigkeit des Teils der Westsahara, den Marokko in den 1970er Jahren annektiert hatte. Doch wegen der großen Phosphat-Vorkommen ist die Region für den marokkanischen König äußerst attraktiv. Studien zufolge befinden sich fast drei Viertel der globalen Phosphatreserven in Marokko und dem annektierten Territorium.

Der Konflikt spitzt sich gerade wieder zu, weil die von Algerien unterstützte Befreiungsfront "Frente Polisario”, die 1976 in der Westsahara die Demokratische Arabische Republik ausrief und seitdem um Selbstbestimmung kämpft, gerade den seit fast 30 Jahren geltenden Waffenstillstand mit Marokko für beendet erklärt hat.

Unterstützung erhielt Marokko von den USA. US-Präsident Donald Trump unterzeichnete am Mittwoch eine Proklamation, mit der die USA Marokkos Autorität über die Westsahara anerkennen. Zuvor hatte Marokko angekündigt, als viertes mehrheitlich muslimisches Land Israel als Staat anzuerkennen.

Balanceakt

Marokko nutze den Migrationsdruck daher auch, um sich weitere Unterstützung im Westsahara-Konflikt zu sichern, glaubt Alvarez. "Marokko will erreichen, dass die EU nie auf eine Abstimmung über die Autonomie der Westsahara drängen wird.” Ein solches Referendum war 1991 durch eine Resolution der Vereinten Nationen vereinbart worden, hat aber nie stattgefunden. Und Marokkos König weiß, dass es auch in Spanien viele Unterstützer für eine Unabhängigkeit der Westsahara gibt.

"Es ist seit Jahren ein Balanceakt, den Europa und Spanien mit Marokko veranstalten”, sagt Fernando Cocho, Professor am Internationalen Campus für Sicherheit und Verteidigung (CISDE) in Madrid. "Dabei gewinnt König Mohammed VI. sehr oft, während sein Volk immer verliert.” Zu den Verlierern gehört derzeit auch der 24-jährige IT-Entwickler Hamza, der in Spanien auf der Straße lebt.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen